Deutschlehrerin
richtig?
Xaver: Absolut.
Mathilda: Und eines Tages eskaliert die Sache.
Xaver: Inwiefern? Was ist jetzt deine Vermutung?
Mathilda: Möchtest du mir nicht erzählen, was wirklich passiert ist?
Xaver: Mich würde zuerst deine Vermutung interessieren.
Mathilda: Ich habe zwei Vermutungen, was passiert sein könnte. Erstens: Der Schriftsteller hat eine Affäre mit dem schwedischen Au-pair und die beiden haben Sex in der Scheune oder sonst irgendwo. Der Bub wacht unter dem Apfelbaum auf, niemand ist da, er spaziert auf dem Gelände herum und hat einen tödlichen Unfall. Die beiden finden das tote Kind und sind halb wahnsinnig vor Angst. Sie beschließen die Leiche zu verstecken und das Ganze wie eine Entführung aussehen zu lassen. – Du bist aschgrau im Gesicht.
Xaver: Welchen tödlichen Unfall hat das Kind?
Mathilda: Irgendeinen. Der Bauernhof ist riesig und es gibt viele Gefahren für einen Eineinhalbjährigen. Er klettert eine Mauer hoch und stürzt hinunter. Ein Pferd rennt frei herum und trampelt ihn nieder. Er isst giftige Beeren. Er kommt unter den Mähdrescher beziehungsweise unter den Traktor und der Fahrer bemerkt es nicht einmal. Okay, das war jetzt Blödsinn.
Xaver: Wo haben sie die Leiche versteckt?
Mathilda: Sie haben sie vergraben. Auf dem großen Gelände war das kein Problem. Es hat sicher eine Baustelle irgendwo gegeben, wo gerade betoniert oder Fliesen gelegt oder sonst was gemacht wurde.
Xaver: Und deine zweite Vermutung?
Mathilda: Der Schriftsteller versucht an diesem Nachmittag wieder krampfhaft zu schreiben. Es gelingt ihm nicht, er leidet seit vielen Monaten an seiner berühmten Schreibhemmung. Es ist ein sehr heißer Tag und Jakob schläft in seinem Kinderwagen im Obstgarten, unter einem Apfelbaum. Die Mutter ist für drei Tage mit ihren Freundinnen nach Istanbul verreist. Das Au-pair kommt endlich von der Universität zurück, will im Garten lernen und dabei ein Auge auf ihn haben. Sie geht allerdings in die Scheune und telefoniert mit ihrem Freund in Schweden. Inzwischen wacht Jakob weinend auf, klettert aus dem Kinderwagen und macht sich auf die Suche nach seinem Vater, den er in seinem Arbeitszimmer findet. Der Kleine lässt ihn nicht arbeiten, plärrt und nervt die ganze Zeit und der Schriftsteller will ihn zum Au-pair bringen. Jakob weigert sich aber und wirft sich brüllend wie am Spieß und um sich schlagend auf den Schriftsteller. Dem platzt endgültig der Kragen, seine Nerven sind zum Zerreißen angespannt und er schüttelt das Kind heftig. Er schüttelt es so lang und heftig, dass es aufhört zu schreien. Das benommene Kind stellt er auf den Boden, es wankt und stürzt, mit dem Hinterkopf schlägt es am Kamin auf. Es ist sofort tot.
Xaver: Du behauptest damit, dass ich ein Mörder bin!!
Mathilda: Ja.
Xaver: Was habe ich mit der Leiche gemacht?
Mathilda: Der Schriftsteller hat sie irgendwo vergraben, was –
Xaver: – auf dem großen Gelände kein Problem war.
Mathilda: Mit welcher Vermutung liege ich richtig?
Xaver: Ich brauche – ich bin total fertig –, ich brauche frische Luft.
Mathilda: Ich auch. Mir ist ganz schwindlig.
Eine halbe Stunde später:
Xaver: Du bist ganz blass.
Mathilda: Es geht schon besser. Die frische Luft tut gut.
Xaver: Mathilda, ich bin kein Verbrecher, ich bin einfach nur –.
Mathilda: Schwach?
Xaver: Ich bin in den letzten Jahren so oft vor einer Polizeiwachstube gestanden, weil ich mich stellen wollte, aber ich konnte es nicht! Dass ich damals nicht die ganze Wahrheit gesagt habe, hat nämlich nicht nur mit mir zu tun, sondern auch mit einem anderen Menschen.
Mathilda: Mit Liv?
Xaver: Ja. Es hätte ihr Leben komplett ruiniert. Ich wollte sie schützen, sie war so jung. Und Feigheit war es natürlich auch.
Mathilda: Meine erste Vermutung war also richtig.
Xaver: Zum Teil. Der Schluss stimmt nicht ganz.
Mathilda: Geh zur Polizei und stell dich! Xaver, bitte, stell dich! Es hat keinen Sinn so weiterzumachen. Danach bist du frei und kannst ein neues Leben anfangen.
Xaver: Mit vierundfünfzig?
Mathilda: Das ist heutzutage nicht alt! Du schreibst deinen Roman über deinen Großvater fertig, den ich übrigens großartig finde, und dann schreibst du einen Roman darüber!
Xaver: Worüber?
Mathilda: Über uns und über alles, was passiert ist! Schreib es dir von der Seele! Und jetzt gehe ich mit dir zur Polizei.
Xaver: Und Liv?
Mathilda: Ich bin sicher, sie wird es verstehen und auch als Erleichterung empfinden. Dass sie damals
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