Dexter
das die Vorschriften des Departments verletzte, und somit auch die Gesetze des Staates Florida. Was für Optionen blieben ihr also?
Wieder trank ich etwas Wasser. Die Flasche war mittlerweile halbleer, aber es schien mein Kopfweh zu lindern – nicht, dass die Schmerzen verschwunden waren, aber hey, so schlimm waren sie gar nicht. Ich meine, Schmerz bedeutete, dass ich am Leben war, und wer hat noch gleich gesagt: »Wo Leben ist, ist Hoffnung?« Vielleicht wusste Samantha die Antwort – doch gerade als ich den Mund öffnete, um sie zu fragen, nahm sie mir die Flasche weg und trank einen großen Schluck, und mir fiel wieder ein, dass ich ja eigentlich darüber nachdenken wollte, was meine Schwester wohl getan und wie das dazu geführt hatte, dass ich nun hier war.
Ich nahm Samantha die Flasche ab und trank. Deborah hätte mich nicht einfach so im Stich gelassen. Natürlich nicht. Deborah liebte mich. Und dann überkam mich die Erkenntnis – auch ich liebte sie. Ich trank noch einen Schluck. Merkwürdige Angelegenheit, die Liebe. Gewiss, dies erst in meinem Alter festzustellen, war ein wenig seltsam, doch ich war von so viel Liebe umgeben … Mein ganzes Leben lang von der Liebe meiner Adoptiveltern Harry und Doris; sie mussten mich nicht lieben – ich war ja nicht ihr leibliches Kind –, aber sie taten es. Sie liebten mich. Ebenso wie viele andere, zum Beispiel Debs – und Rita und Cody und Astor und Lily Anne. Wunderschöne, wunderbare Lily Anne, die ultimative Botin der Liebe. Doch auch die anderen liebten mich auf ihre Weise …
Samantha griff nach der Flasche und trank, und plötzlich hatte ich eine Erleuchtung: Selbst Samantha hatte mir so viel Liebe gegeben. Sie hatte alles riskiert, was ihr etwas bedeutete, alles, was sie jemals gewollt hatte, nur um mir die Flucht zu ermöglichen. War das nicht ein Akt reiner Liebe?
Ich trank noch einen Schluck und spürte die Liebe dieser wunderbaren Menschen, Menschen, die mich liebten, obwohl ich einige schlimme Dinge getan hatte – aber zur Hölle damit, ich hatte ja aufgehört, nicht wahr? Bemühte ich mich nicht, ein Leben der Liebe und Verantwortung zu führen, in einer Welt, die sich plötzlich in einen Ort der Freude und Wunder verwandelt hatte?
Samantha schnappte sich die Flasche und trank einen großen Schluck. Sie gab sie mir zurück, und ich leerte sie gierig – köstlich, das beste Wasser, das ich jemals gekostet hatte. Vielleicht wusste ich es aber auch nur intensiver zu schätzen. Ja, die Welt war wahrlich ein erstaunlicher Ort, und ich passte perfekt hinein. Ebenso wie Samantha. Was für ein wunderbarer Mensch sie war. Auch sie hatte sich um mich gekümmert, obwohl sie es nicht musste. Und tat es immer noch! Versorgte mich und streichelte mein Gesicht mit einer Innigkeit, die man nur Liebe nennen konnte – was für ein wunderbares Mädchen! Und auch wenn sie gegessen werden wollte … Wow, ich hatte eine Erleuchtung: Essen ist Liebe – der Wunsch, gegessen zu werden, war nur eine andere Möglichkeit, Liebe zu geben! Und Samantha hatte diese Möglichkeit gewählt, weil sie so von Liebe erfüllt war, dass sie diese auf keine andere Weise mehr ausdrücken konnte! Erstaunlich!
Mit neuer Achtung betrachtete ich ihr Gesicht. Sie war eine wunderbare, großherzige Person. Und obwohl mein Nacken dabei schmerzte, musste ich ihr zeigen, dass ich verstand, was sie tat, und wirklich begriff, was für eine wunderbare, schöne Frau sie war – deshalb hob ich den Arm und legte meine Hand an ihre Wange. Ihre Haut fühlte sich weich an, warm, sprühend vor Leben, und ich streichelte sie. Sie blickte mich lächelnd an und schob meine Hand zurück.
»Du bist so schön«, sagte ich. »Ich meine, das Wort schön beschreibt es nicht wirklich, nur die Oberfläche, nicht die Wirklichkeit, die absolute
Tiefe,
die ich mit ›schön‹ meine – besonders in deinem Fall, weil ich jetzt endlich begriffen habe, worum es dir bei diesem Gegessenwerden geht –, ich meine, du bist auch von außen schön; versteh mich nicht falsch, ich will dir das nicht nehmen, ich weiß, wie wichtig das für ein Mädchen ist. Eine Frau. Du bist achtzehn; du bist eine
Frau,
ich weiß, denn du hast eine sehr erwachsene Entscheidung getroffen, was du mit deinem Leben machen willst, und es gibt kein Zurück, was es zu einer wirklich erwachsenen Entscheidung macht, und ich bin sicher, dass du die Konsequenzen deiner Entscheidung überblickst und weißt, dass es kein Zurück gibt,
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