Dexter

Titel: Dexter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay

Vom Netzwerk:

Ehrlichkeit nicht den Gepflogenheiten entsprach. Ich war davon ausgegangen, dass schmeichelnde Bemerkungen verlangt waren, selbst wenn man dabei log. Man sagte Dinge wie: »Es war wunderbar – wir sollten uns den Zauber der Erinnerung bewahren und es nicht noch einmal versuchen.« Oder: »Uns bleibt immer noch Paris.« Selbstverständlich ist »Uns bleibt immer noch der abscheulich stinkende Trailer in den Everglades« nicht ganz von derselben Qualität, aber sie hätte sich wenigstens Mühe geben können. Vielleicht suchte Samantha Rache für das tiefe Unbehagen, das sie empfand, doch vielleicht sagte sie auch schlicht die Wahrheit, weil sie als herzlose Jugendliche nicht wusste, dass man dergleichen nicht aussprach.
    Wie auch immer, zusätzlich zu meinen Kopfschmerzen aktivierte es meine gemeine Ader, von der ich noch gar nichts gewusst hatte. »Nein, es war nicht besonders toll«, bestätigte ich. Jetzt blickte sie mich an, und ihr Gesichtsausdruck war fast zornig, aber sie sagte nichts, und nach einem Moment sah sie wieder fort. Ich streckte mich, massierte mir ein letztes Mal die Nackenmuskeln und erhob mich.
    »Es muss einen Weg nach draußen geben«, sagte ich, eher zu mir selbst als zu ihr, aber natürlich antwortete sie trotzdem.
    »Nein, gibt es nicht. Er ist ausbruchssicher. Sie sperren andauernd Leute hier ein, und bis jetzt hat es noch keiner geschafft.«
    »Aber hat es überhaupt jemand versucht, wenn sie immer alle unter Drogen setzen?«
    Sie schüttelte mit halb gesenkten Lidern den Kopf, um mir zu verdeutlichen, wie einfältig ich war, dann wandte sie den Blick ab.
    Und vielleicht war ich wirklich einfältig, aber ich hatte nicht die Absicht, mich einfach hinzusetzen und darauf zu warten, dass man mich holte und auffraß – nicht ohne alles zu versuchen, um zu entkommen.
    Erneut lief ich durch den Trailer. Nichts hatte sich verändert, aber nun sah ich genauer hin. Es gab keine Möbel, doch am anderen Ende war eine Bank eingebaut, die offensichtlich als Bett gedient hatte. Darauf lag eine dünne Schaumstoffmatratze und darüber ein schäbiges graues Laken. Ich warf die Matratze zu Boden. Eine Sperrholzplatte versperrte eine Öffnung. Ich zog die Platte weg. In dem Fach darunter lag ein flaches Kissen in einem zum Laken passenden Bezug. Das Fach schien die gesamte Breite des Trailers einzunehmen, obwohl ich in der Dunkelheit nichts erkennen konnte.
    Ich zog das Kissen heraus und legte ein etwa fünfzig Zentimeter langes Stück Kantholz frei. Das eine Ende war zu einer stumpfen Spitze gesägt worden und war voller Erde. Am anderen Ende waren Ösen angebracht, und etwas, möglicherweise ein Seil, hatte eine Kerbe im Holz hinterlassen. Aus welchem geheimnisvollen Grund auch immer war das Holzstück als Pflock verwendet worden. Man hatte es in den Boden gerammt, um was auch immer mit einem Seil daran zu fesseln. Sogar ein rostiger Nagel steckte noch darin. Ich holte den Pflock heraus und legte ihn neben das Kissen. Dann bückte ich mich so tief wie möglich in das Fach, entdeckte aber nichts mehr. Ich drückte gegen den Boden und spürte, wie er ein wenig nachgab, deshalb drückte ich kräftiger und wurde vom ächzenden Geräusch einer sich biegenden Metallplatte belohnt.
    Bingo.
Ich verstärkte den Druck, und das Metall bog sich sichtbar durch. Ich zog den Kopf heraus und stand auf, dann stieg ich mit den Beinen voran in das Fach. Ich passte knapp durch die Öffnung. Ich begann so kraftvoll wie möglich zu hüpfen. Der Lärm war unglaublich, und nach dem siebten
Wumm!
kam Samantha herüber, um festzustellen, was dieses Getöse erzeugte.
    »Was machst du da?«, fragte sie, eine Frage, die ich ebenso dumm wie nervenaufreibend fand.
    »Fliehen«, erwiderte ich und ließ mich besonders schwer fallen.
Wumm!
    Sie sah mir eine Weile beim Auf-und-Ab-Hüpfen zu, dann schüttelte sie den Kopf und hob klugerweise die Stimme, damit mir ihre negative Einstellung auch über den Lärm nicht entging. »Ich glaube nicht, dass du auf diesem Weg rauskommst.«
    »Das Metall ist ganz dünn. Nicht wie der andere Boden.«
    »Zugwiderstand«, sagte sie mit lauter Stimme. »Wie Oberflächenspannung in einem Wasserglas. Wir hatten das in Physik.«
    Ich ließ mir eine Sekunde Zeit, über einen Physikkurs zu staunen, in dem Schülern der Zugwiderstand eines Wohnwagenbodens gelehrt wurde, aus dem jemand vor Kannibalen fliehen will, dann brach ich mitten im Sprung ab. Vielleicht hatte sie recht – die Ransom Everglades war