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Dexter

Dexter

Titel: Dexter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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wiederzuerkennen, was mir zu diesem Zeitpunkt nicht so ganz fair erschien.
    »Doch denke ich«, fuhr Alana fort, »dass wir zwei auf jeden Fall miteinander zurechtkommen werden. Ich nehme das hier.« Sie ergriff eine große, äußerst scharf wirkende Klinge, eine Art Brotmesser, das ihr ein gewisses Amüsement zu versprechen schien. Sie drehte sich zu mir um, trat mit leicht erhobener Klinge einen Schritt auf mich zu und blieb dann stehen.
    Alana betrachtete mich, ihr Blick wanderte über mich hinweg, während sie sich noch einmal alle Dinge durch den Kopf gehen ließ, die sie zu tun beabsichtigte.
    Selbstverständlich könnte meine Einbildung mit mir durchgegangen sein, oder vielleicht konnte ich ihre Absichten wegen meiner eigenen bescheidenen Erfahrungen auf diesem Gebiet erahnen, Tatsache ist, dass ich jede Bewegung spürte, über die sie nachdachte, jeden Stich und Schnitt, den sie an mir versuchen wollte, und Schweiß tränkte mein Hemd und rann mir von der Stirn, und ich spürte, wie mir das Herz gegen die Rippen schlug, als versuchte es zu fliehen, während wir einander in drei Metern Entfernung gegenüberstanden und einen mentalen Pas de deux aus dem klassischen Ballett des Bluts tanzten. Alana dehnte diesen Moment der Vorfreude, bis ich spürte, dass meine Schweißdrüsen vertrocknet waren und meine geschwollene Zunge gegen den Gaumen drückte. Erst dann sagte sie mit heiserer, kehliger Stimme: »Los geht’s«, und trat einen Schritt auf mich zu.
    Ich nehme an, dass diese New-Age-Philosophie eine gewisse Berechtigung hat – dass sich alles irgendwann ausgleicht –, ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass mir jetzt eine Kostprobe meiner eigenen Medizin bevorstand, was wirklich nicht zur Sache gehört. An diesem Abend hatte ich erlebt, wie die Zeit langsamer wurde und schließlich stehenblieb, doch als Alana jetzt mit erhobenem Messer auf mich zutrat, schien sie wie zum Ausgleich einen Gang hochzuschalten und alles in einer Art rasendem Tanz vonstattenzugehen.
    Als Erstes hörte man ein lautes Donnern, und der riesige Muskelprotz explodierte; seine Leibesmitte verschwand buchstäblich in einem grauenhaften, roten Sprühnebel, und der Rest von ihm segelte über die Reling ins Wasser, während auf seinem Gesicht noch ein Ausdruck benommener Ungläubigkeit lag. Er verschwand so rasch und vollständig, als hätte ein allmächtiger Regisseur ihn aus der Szene geschnitten.
    Zweitens – so schnell, dass es beinah gleichzeitig mit dem Flug des Muskelprotzes über die Reling zu passieren schien – wirbelte Alana mit erhobenem Messer und weit geöffnetem Mund herum und stürzte sich auf den Mann im schwarzen Umhang, der die Schrotflinte durchlud und feuerte, worauf der Schuss ihren erhobenen Arm mit dem Messer wegriss. Dann lud er erneut durch, wirbelte mit unglaublicher Geschwindigkeit herum und erschoss die letzte Wache, die gerade die Waffe hob. Alana brach zu Samanthas Füßen zusammen, die Wache wurde gegen die Reling geschleudert und stürzte hinab, und plötzlich war es auf dem Deck des verruchten Schiffs
Vengeance
sehr still.
    Und dann lud diese melodramatische, rätselhafte Gestalt im schwarzen Umhang ein weiteres Mal durch und drehte sich, bis die rauchende Mündung direkt auf mich zeigte. Einen kurzen Moment kam alles erneut zum Stillstand; ich starrte die schwarze Maske an, während die schwarze Mündung selbstverständlich weiterhin auf meine Leibesmitte zielte – und fragte mich: Hatte ich jemanden da oben verärgert? Ich meine, was hatte ich getan, um zu diesem nicht enden wollenden Sammelsurium des Todes verurteilt zu sein? Ernsthaft: Wie vielen verschiedenen und gleichermaßen grauenhaften Todesarten kann ein Mann sich innerhalb von nur einem Abend stellen? Gab es denn keine Gerechtigkeit mehr auf der Welt? Eine andere als die, auf die ich spezialisiert war, meine ich.
    Es ging einfach immer weiter – man hatte mich zusammengeschlagen, geohrfeigt, angebohrt, gefoltert und mit Messern bedroht, angekündigt, mich zu essen, zu erstechen, zu erschießen –, und ich hatte die Nase voll. Es reichte.
    Ich konnte mich nicht einmal mehr über diese ultimative Demütigung ereifern. Mein Adrenalin war erschöpft, mein Fleisch so zart wie nur möglich, und es wäre fast eine Erleichterung gewesen, es endlich hinter sich zu haben. Jeder Wurm krümmt sich irgendwann, und Dexter hatte einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr einstecken konnte.
    Und so richtete ich mich zu voller Größe auf und

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