Dexter
Schwesterherz. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Und selbstverständlich wurde Deborah ganz steif und schlug meine Hand fort. Sie sprang auf und sah mich mit einem Ausdruck an, der zumindest halbwegs an ihr übliches Zähnefletschen erinnerte. »Fürs Erste könntest du aufhören, dich wie Father Flanagan aufzuführen«, fauchte sie. »Jesus, Dex. Was ist in dich gefahren?«
Und ehe ich auch nur eine einzige Silbe meiner vollkommen logischen Erwiderung herausbringen konnte, stapfte sie aus meinem Büro und verschwand den Flur hinunter.
»War mir ein Vergnügen«, versicherte ich ihrem Rücken.
Möglicherweise war es für mich einfach zu neu, Gefühle zu empfinden, um sie zu verstehen und mich angemessen zu verhalten. Oder vielleicht brauchte Debs nur ein wenig Zeit, um sich an den neuen, mitfühlenden Dexter zu gewöhnen. Doch mittlerweile schien es mir um einiges wahrscheinlicher, dass Miamis Trinkwasserreservoir von irgendeiner verruchten Person verseucht worden war.
Gerade als ich für diesen Tag Schluss machen wollte, wurde es noch eine Spur unheimlicher. Mein Handy klingelte, das Display verriet mir, dass Rita anrief, und so meldete ich mich. »Hallo?«
»Dexter, äh, ich bin’s«, sagte sie.
»Selbstverständlich bist du das«, erwiderte ich ermutigend.
»Bist du noch bei der Arbeit?«
»Ich wollte gerade aufbrechen.«
»Oh, gut, weil – ich meine, statt Cody und Astor abzuholen?«, sagte sie. »Das brauchst du heute nämlich nicht.«
Eine rasche mentale Übersetzung verriet mir, dass ich aus irgendeinem Grund die Kinder an diesem Abend nicht abholen musste. »Oh, warum nicht?«, erkundigte ich mich.
»Na ja, weil, sie sind schon weg«, erklärte sie, und einen furchtbaren Moment lang, während ich noch darum rang, die Bedeutung ihrer Worte zu entschlüsseln, glaubte ich, dass ihnen etwas Schreckliches zugestoßen war.
»Was … wo sind sie?«, brachte ich stammelnd heraus.
»Oh. Dein Bruder hat sie abgeholt. Brian. Er geht mit ihnen zum Chinesen.«
Was für wunderbare neue Erfahrungen mir durch das Menschsein zuteilwurden. In diesem Moment zum Beispiel war ich sprachlos vor Verblüffung. Welle um Welle von Gedanken und Gefühlen spülte über mich hinweg: Dinge wie Zorn, Erstaunen und Misstrauen, verschiedenste Gedanken wie zum Beispiel, was Brian wirklich vorhatte, warum Rita dabei mitmachen sollte und was Cody und Astor veranstalten würden, wenn ihnen wieder einfiel, dass sie chinesisches Essen nicht mochten. Aber gleichgültig, wie ausschweifend oder spezifisch diese Vorstellungen auch waren, aus meinem Mund drang nichts außer »Gnmmpf«, und während ich noch darum rang, verständliche Laute hervorzubringen, flötete Rita: »Oh, ich muss auflegen, Lily Anne weint. Bis dann!«, und legte auf.
Ich bin überzeugt, dass ich nur Sekunden dort stand und dem Klang des absoluten Nichts lauschte, aber es schien eine Ewigkeit. Schließlich wurde mir bewusst, dass mein Mund trocken war, weil er weit offen stand, und meine Hand schwitzte, weil ich das Handy mit der Faust umklammerte. Ich schloss den Mund, steckte das Handy ein und machte mich auf den Heimweg.
Als ich Richtung Süden fuhr, hatte der Feierabendverkehr seinen Höhepunkt erreicht, und dennoch erlebte ich seltsamerweise auf der gesamten Strecke weder Akte beiläufiger Gewalt noch brutales Schneiden oder Schwingen von Fäusten oder Schusswechsel. Der Verkehr kroch so langsam wie immer voran, und niemanden schien es zu stören. Ich fragte mich, ob ich mein Horoskop hätte lesen sollen – vielleicht hätte es erklärt, was vor sich ging. Gut möglich, dass irgendwo in Miami wirklich bewanderte Wesen – Druiden zum Beispiel – mit den Köpfen nickten und murmelten: »Ah, Jupiter schreitet rückwärts durch den Mond des Saturn«, um sich darauf einen weiteren Kräutertee einzuschenken und in Birkenstocksandalen umherzuschlurfen. Oder vielleicht war es eine Gruppe der Vampire, die Debs jagte – nannte man das Rudel? Sollten sie ihre Zähne gleichzeitig schärfen, würde für uns alle vielleicht ein Zeitalter der Harmonie anbrechen. Oder zumindest für Dr. Lonoff, den Zahnarzt.
Ich verbrachte einen ruhigen Abend zu Hause, sah fern und hielt Lily Anne im Arm, wann immer sich die Gelegenheit bot. Sie schlief viel, aber das konnte sie ebenso gut, wenn ich sie gleichzeitig im Arm hielt, deshalb tat ich es. Es schien mir von ihrer Seite ein bemerkenswertes Ausmaß an Vertrauen. Einerseits hoffte ich, das würde sich noch
Weitere Kostenlose Bücher