Dexter
mit der überraschten Miene einer Zeichentrickfigur an. »Nun, natürlich, um meine Familie zu sehen. Warum sonst?«
»Ich weiß nicht, warum sonst«, antwortete ich noch gereizter. »Aber es muss etwas geben.«
Er schüttelte den Kopf. »Warum glaubst du das, Bruderherz?«
»Weil ich dich kenne.«
»Eigentlich nicht«, bemerkte er, während sein Blick mich fixierte. »Du kennst nur einen kleinen Teil von mir. Und ich dachte … Ach, verdammt«, unterbrach er sich, als die blechernen Noten des »Ritt der Walküren« aus seiner Hosentasche drangen. Er zog das Handy heraus, warf einen Blick auf die Anzeige und sagte: »Ach herrje. Ich fürchte, ich muss los. Sosehr ich die Unterhaltung mit dir auch genossen habe. Ich empfehle mich jetzt besser der Dame des Hauses.« Und er sprang auf und flitzte in die Küche, wo ich ihn blumige Komplimente und Entschuldigungen säuseln hörte.
Die gesamte Familie begleitete ihn zur Haustür, aber es gelang mir, sie abzuhängen, indem ich Brian nach draußen begleitete und sehr bestimmt die Tür zwischen ihnen und meinem Bruder und mir schloss. »Brian«, sagte ich. »Wir müssen uns dringend ein wenig unterhalten.«
Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Ja, Bruderherz, unbedingt«, stimmte er mir zu. »Ein guter, altmodischer Plausch. Uns gegenseitig auf den neusten Stand bringen und so. Sag mal, wie geht es denn in deinem Fall mit dem vermissten Mädchen voran?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich, entschlossen, die Sache bis zum Ende durchzuziehen und alles ans Licht zu zerren. Doch erneut begann sein Handy diese heroischen Wagner-Töne zu piepsen, und er warf einen kurzen Blick darauf und stellte es ab.
»Ein anderes Mal, Dexter. Ich muss jetzt wirklich los.« Und ehe ich noch protestieren konnte, tätschelte er mir unbeholfen die Schulter und eilte zu seinem Auto.
Ich sah ihm nach, als er fortfuhr, und mir blieb als einziger Trost, dass die von ihm getätschelte Schulter noch etwas feucht von Lily Annes Spucke war.
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23
I ch sah den Rücklichtern von Brians Auto nach, bis sie in der Ferne verschwanden. Doch mein Unglück verschwand nicht mit meinem Bruder. Es wogte und schwoll in mir an, während das Mondlicht hineinströmte und sich mit dem Zorn mischte, und wieder begann die Schlangenstimme zu betteln und zu drängen und ihre heimtückischen Vorschläge zu wispern.
Begleite uns,
flüsterte sie mit dem honigsüßen Klang reiner, vollkommener Vernunft.
Begleite uns in die Nacht; komm und spiel mit uns, und du wirst dich viel besser fühlen …
Ich verweigerte mich, stand sicher auf meinem neuen Ufer menschlicher Vaterschaft – aber das Mondlicht flutete zurück und zerrte heftiger, und ich schloss einen Moment die Augen, um es auszuschließen. Ich dachte an Lily Anne, ich dachte an Cody und Astor und das anbiedernde Vergnügen, das sie an Brian hatten, und ein weiterer kleiner Quell der Gereiztheit entsprang. Ich versiegelte ihn und dachte an Deborah und ihre tiefe Unzufriedenheit. Sie hatte sich so über ihre Festnahme Victor Chapins gefreut und war so unglücklich gewesen, als sie ihn hatte gehen lassen müssen. Ich wollte, dass sie glücklich war. Ich wollte auch die Kinder glücklich sehen – und die bösartige leise Stimme schlich sich wieder ein und murmelte:
Ich weiß, wie man sie glücklich machen kann, und du weißt das auch.
Ich lauschte ihr einen Moment, und alle Teile fügten sich in vollkommener Schärfe und Deutlichkeit aneinander; ich sah mich selbst in die Nacht gleiten, in der Hand Paketband und Messer …
Und stemmte mich wieder heftig dagegen, und das Bild zersplitterte. Ich atmete tief ein und schlug die Augen auf. Der Mond strahlte mich erwartungsvoll an, aber ich schüttelte entschieden den Kopf. Ich würde stark sein, und ich würde durchhalten. Ich drehte der Nacht mit kühler Entschlossenheit den Rücken und marschierte ebenso entschlossen zurück ins Haus.
Rita räumte die Küche auf. Lily Anne gurgelte in der Wiege, und Cody und Astor saßen schon wieder auf dem Sofa vor dem Fernseher und spielten mit der Wii. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die Dinge zwischen uns zu klären, die Glut von Brians Einfluss auszutreten und diese Kinder aus der Dunkelheit zu führen; es konnte gelingen. Ich würde es tun. Ich ging direkt zu Cody und Astor und stellte mich zwischen sie und den Bildschirm. Sie sahen zu mir auf und schienen mich zum ersten Mal an diesem Abend wahrzunehmen.
»Was ist?«,
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