Dexter
Brustverletzung und den Händen, die den Holzpflock umklammerten: Es gab nicht viel zu sehen. Ein einfaches Stück Holz, das von überall stammen mochte. Unter den Fingernägeln konnte ich eine dunkle Masse erkennen, vermutlich beim Kampf abgekratzt – und während ich sie musterte und sie einer Sichtanalyse unterzog, wurde mir bewusst, dass ich mich exakt wie ein Dunkler Sherlock verhielt, was Zeitverschwendung war. Die Spurensicherung würde das alles wesentlich besser erledigen, als ich es mit bloßem Auge zu tun hoffen konnte. Was ich brauchte und Deborah von mir erwartete, war eine dieser besonderen Einsichten in den verdrehten, bösartigen Verstand, der diese ungewöhnliche Methode ersonnen hatte, Deke umzubringen. Ich war immer in der Lage gewesen, diese kleinen Einzelheiten deutlicher zu erkennen als die übrigen Mitarbeiter der Kriminaltechnik, weil ich selbst verdreht und bösartig war.
Doch nun? Nun, da ich mich bekehrt und in Dex-Daddy verwandelt hatte? Der den Passagier ignorierte, ja sogar anschnauzte? Vermochte ich es dennoch?
Ich wusste es nicht, und ich wollte es eigentlich auch nicht wissen, aber es schien, als ließe mir meine Schwester keine Wahl – wie in allen familiären Situationen blieb mir nur die Entscheidung zwischen unmöglich oder unerfreulich.
Weshalb ich die Augen schloss und lauschte, auf einen heimtückisch geflüsterten Hinweis wartete.
Nichts. Kein ledriges Rauschen der Schwingen, keine Andeutung beleidigter Verachtung. Nicht mal eine Beinahe-Silbe gekränkter Ablehnung. Der Passagier war so still, als hätte es ihn nie gegeben.
Ach, komm schon,
sagte ich lautlos in Richtung der Stelle, an der er lebte.
Du schmollst doch nur.
Die Reaktion war ein beleidigtes Grummeln, als wäre ich keiner Antwort würdig.
Bitte
…, dachte ich.
Einen Moment lang passierte gar nichts, dann hörte ich ganz deutlich ein Fast-Geräusch, eine Art reptilienhaftes
Hmmpf,
ein Zurechtruckeln der Schwingen und dann das schnippische Echo meiner eigenen Stimme –
und bleib weg
–, gefolgt von Stille, als hätte er aufgelegt.
Ich öffnete die Augen. Deke war noch immer tot, und ich wusste auch nicht mehr über das Wie und Warum als vor meiner kleinen Séance. Ganz offensichtlich musste ich mich selbst anstrengen, wenn ich auf einen Einfall erpicht war.
Ich sah mich um. Deborah stand ungefähr zehn Meter hinter mir und erwiderte meinen Blick mit grimmiger Erwartung. Ich hatte ihr nichts zu sagen, und obgleich ich nicht wusste, wie sie auf diese Mitteilung reagieren würde, hatte ich so eine Ahnung, als hätten wir das Land der Armknüffe hinter uns gelassen und neues Territorium betreten, das wesentlich schmerzhafter werden würde.
Nun gut; Spurensuche würden die anderen betreiben, Fleiß war keine Option, und der Passagier nahm sich eine beleidigte Auszeit – blieb noch glücklicher Zufall. Ich musterte den Boden rund um die Leiche. Es gab weder verräterische Fußspuren handgenähter linker Schuhe, noch hatte jemand ein einzigartiges Streichholz oder eine Visitenkarte fallen lassen, und auch Deke hatte es versäumt, den Namen seines Mörders mit Blut in den Staub zu kritzeln. Ich sah mich weiter um, und schließlich fiel mir etwas ins Auge. Die Müllbeutel, die aus der Tonne neben der Tür quollen, waren halbtransparent und gelblich braun. Bis auf eine, die in der Mitte steckte; sie war weiß.
Das war fast sicher vollkommen bedeutungslos. Vermutlich waren der Putzkolonne die Beutel ausgegangen, oder jemand hatte seinen Müll von zu Hause mitgebracht. Doch wenn ich mich wirklich auf mein Glück verlassen wollte, konnte ich die Würfel genauso gut jetzt fallen lassen. Ich erhob mich, während ich versuchte, mich an den Namen der alten römischen Glücksgöttin zu erinnern – Fortuna? Egal. Ich war ganz sicher, dass sie nur Latein sprach, und das beherrschte ich nicht.
Ich näherte mich vorsichtig dem Müll, bemüht, keine potenziellen Spuren auf dem Boden zu zerstören, dann bückte ich mich wieder, mein Gesicht nur wenige Zentimeter von der weißen Tüte entfernt. Sie war kleiner als die anderen, eine handelsübliche Tüte, wie es sie in jedem Haushalt gab. Interessanterweise war sie nur halbvoll. Wer warf einen fast leeren Müllbeutel fort? Am Ende eines Bürotags vielleicht – aber auf diesem Beutel lagen drei oder vier andere; entweder war er gleichzeitig entsorgt worden, jedoch nur halbvoll … oder jemand hatte ihn später hineingestopft. Aber warum lag er dann nicht oben?
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