Dexter
beruhigend klang, da meine Stimme noch rauh vom Schlafmangel war. Doch sie wurde ruhiger, während ich ihre Windeln wechselte, und als ich mich mit ihr in dem Schaukelstuhl neben dem Wickeltisch niederließ, zuckte sie nur noch ein paarmal und schlief dann wieder ein. Das Gefühl der Bedrohung, das noch aus meinem idiotischen Traum herrührte, begann zu verblassen, und ich schaukelte und summte ein paar Minuten vor mich hin, was ich weit mehr genoss, als erlaubt schien, und als ich überzeugt war, dass Lily Anne sich wieder im Tiefschlaf befand, stand ich auf, legte sie vorsichtig in die Wiege und kuschelte sie sorgsam in ihr kleines Nest.
Ich hatte mich gerade wieder in mein eigenes Nest gekuschelt, als das Telefon klingelte. Lily Anne begann umgehend zu weinen, und Rita sagte: »Oh, Jesus«, was aus ihrem Mund wirklich schockierend klang.
Es bestand nicht der geringste Zweifel, wer zu dieser Stunde anrief. Selbstverständlich Deborah, um mich über irgendeinen unheimlichen neuen Notfall zu informieren und mir ein schlechtes Gewissen einzuflößen, falls ich nicht augenblicklich aus dem Bett sprang und an ihre Seite eilte. Einen Moment erwog ich, einfach nicht abzunehmen – immerhin war sie eine erwachsene Frau, und es war Zeit, dass sie lernte, auf eigenen Füßen zu stehen. Doch Pflichtgefühl und Gewohnheit übernahmen das Kommando, kombiniert mit einem Ellbogen von Rita. »Dexter, um Himmels willen, geh dran«, sagte sie, was ich schließlich tat.
»Ja«, meldete ich mich, wobei ich eine gewisse Verdrießlichkeit durchklingen ließ.
»Ich brauche dich hier, Dex«, sagte sie. In ihrer Stimme lag echte Erschöpfung – und noch etwas anderes, eine Spur des Schmerzes, den sie in letzter Zeit gezeigt hatte, doch trotzdem war es das altbekannte Lied, und ich konnte es nicht mehr hören.
»Tut mir leid, Deborah«, sagte ich wild entschlossen. »Das Büro öffnet morgen wieder, und ich möchte wirklich bei meiner Familie bleiben.«
»Man hat Deke gefunden«, sagte sie, und an der Art, wie sie es sagte, konnte ich erkennen, dass ich den Rest nicht wissen wollte, aber sie fuhr trotzdem fort: »Er ist tot, Dexter«, sagte sie. »Tot und angefressen.«
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24
E s ist eine altbekannte Weisheit, dass Polizisten gefühllos werden, ein Klischee, so abgenutzt, dass es sogar über das Fernsehen verbreitet wird. Polizisten sind tagtäglich mit grauenvollen, brutalen und bizarren Dingen konfrontiert, die kein normales menschliches Lebewesen jeden Tag ertragen und dabei geistig gesund bleiben könnte. Deshalb lernen sie, nicht zu fühlen, eine kühle, ausdruckslose Haltung zu entwickeln und zu pflegen, mit der sie all den überraschenden Dingen begegnen, die ihre Mitmenschen einander antun. Alle Polizisten praktizieren dieses Nicht-Fühlen, doch könnte es durchaus sein, dass die Polizisten Miamis darin besser sind als andere, da sie so häufig Gelegenheit zum Üben erhalten.
Weshalb es ein wenig verstörend war, bei der Ankunft am Tatort überall ernsten, schockierten Streifenpolizisten zu begegnen, die das Gelände sicherten; noch schlimmer, sich unter dem Absperrband durchzubücken und abgebrühte Kriminaltechniker wie Vince Masuoka und Angel-keine-Verwandtschaft bleich und stumm am Rand stehen zu sehen. Menschen, die den Anblick einer freigelegten menschlichen Leber als seltene Gelegenheit betrachten, einen Witz zu reißen, und doch war das, was sie hier gesehen hatten, offensichtlich so grauenhaft, dass ihnen der Humor vergangen war.
Alle Polizisten entwickeln eine gewisse Unempfindlichkeit gegen den Anblick des Todes – aber falls das Opfer ein anderer Polizist ist, reißt aus irgendeinem Grund die Hornhaut, und Gefühle rinnen wie Harz aus einem Baum. Selbst wenn es um einen Polizisten wie Deke ging, den niemand besonders gemocht hatte.
Seine Leiche war hinter einem kleinen Kino an der Lincoln Road abgelegt worden, neben einem Stapel aus altem Bauholz und Leinwand und einer Tonne, aus der Müllbeutel quollen. Man hatte ihn ziemlich theatralisch auf den Rücken gebettet, ohne Hemd, die Hände über der Brust gefaltet. Sie umklammerten etwas, das wie ein schlichter Holzpflock aussah, den man ihm in die ungefähre Gegend des Herzens getrieben hatte.
Sein Gesicht war eine verzerrte Maske der Qual, vermutlich verursacht von dem Pflock, den man durch Haut und Knochen gerammt hatte, aber es war eindeutig Deke, selbst ohne die Fleischfetzen, die man aus Gesicht und Armen gerissen hatte. Die Bissspuren waren aus
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