Dezembergeheimnis
hätte.
Obwohl das Café mit Touristen bis oben hin vollbeladen war, verbrachten sie mehrere Stunden dort und zu Leas Überraschung wurde ihr überhaupt nicht langweilig. Im Gegenteil: Es faszinierte sie, wie diese drei Frauen sich mit so viel Herzblut auf ihre Arbeit stürzten und nach all diesen Jahren, in denen sie offenbar schon im Geschäft waren, immer noch mit neuen Ideen aufwarten konnten.
Selbst Frau Löwenberger, von der Lea immer geglaubt hatte, dass sie das Ganze immer nur aus Langeweile betrieb, blühte neben ihren Freundinnen regelrecht auf und schon bald hatte Lea ganze Seiten vollgeschrieben.
Gegen Nachmittag gab Frau Löwenberger ihr zu verstehen, dass sie die restliche Zeit gerne mit den anderen Damen privat verbringen wollte und Lea somit bis zum Abendessen freigestellt war. In Jacke, Schal und Mütze dick eingepackt, machte sie sich auf den Weg, die Stadt noch einmal für sich alleine zu erkunden. Der gemütliche Sparziergang wurde vom Wetter jedoch immer noch in eine ermüdende Schlitterpartie verwandelt.
Bei jeder Ecke, jedem Haus, jeder Straßenlaterne … bei allem, was auf sie neu und anders wirkte, musste sie an Noel denken. Wäre er mitgekommen, wäre dies auch seine erste Reise gewesen. Zusammen hätten sie Zürcher Geschnetzeltes probieren, die Landschaft bestaunen oder sich über den fremden Akzent wundern können, aber alleine mochte sie nichts davon. Im Grunde wollte sie keine Babykuh essen, wandern hatte sie noch nie etwas abgewinnen können – und wenn sie im Kiosk an der Kasse den brummigen Verkäufer nicht verstand, fühlte sie sich alles andere als willkommen.
Zu guter Letzt flüchtete sie sich wahrlich in die Bibliothek. Warum sie von allen Orten ausgerechnet hier Zuflucht suchte, war ihr selbst unbegreiflich. Die vertraute Atmosphäre ließ ein seltsames Gefühl in ihr aufsteigen: Einerseits erfüllte sie eine gewisse Sicherheit, doch andererseits fühlte sie sich verloren. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie grundlos hier herein gestolpert gekommen war und weder als Kundin noch als Kollegin durch die Gänge streifte.
Das erste Mal seit sicher einem Jahr nahm sie sich die Zeit, ihr fremde Bücher aufzuschlagen. Sie war umgeben von Werken von Menschen wie sie; Leute, die ihre Geschichten zu Papier brachten. Doch selbst, dass sie sich dieser Tatsache endlich mal wieder bewusst wurde, konnte nicht die in ihr nagenden Gedanken zum Schweigen bringen. Sie las alte Notizen und betrachtete antike Füller und dachte an Frau Löwenberger und ihre Freundinnen. Sie hatte so lange ohne das Schreiben gelebt. Konnte es wirklich ihre Leidenschaft sein, wenn sie so lange ohne sie auskam? War sie im Endeffekt nur eine Heuchlerin?
Ehe sie überhaupt durch das ganze Gebäude gelaufen war, hatte sie es schon verlassen, um sich nur wenige Minuten später auf dem Bett in ihrem Kämmerchen zusammenzurollen.
Immer hatte sie schreiben wollen. Aber wann hatte sie sich das letzte Mal
richtig
ausgetobt? Ihre kleinen Notizen … waren die überhaupt zu etwas gut? Lea holte sich das leere Heft, das sie extra eingepackt hatte, öffnete den Füller und wollte einfach nur schreiben. Einfach nur Wörter aus sich herausfließen lassen. Aber es kam nichts.
An was denke ich denn gerade?
, fragte sie sich. Es würde ihr ja sogar reichen, einfach ihre Gefühle mal wieder zu Papier zu bringen.
Noel erschien vor ihrem inneren Auge. Wie er sie am Bahnhof umarmt hatte, wie sie an Silvester getanzt hatten, wie sie auf ihrem Sofa lagen … Sie war sich ganz sicher, seinen Geruch immer noch in der Nase zu haben. Lea legte Buch und Stift weg, drehte sich auf die Seite und umarmte sich selbst fest.
Sie fühlte sich kraftlos. Wie ausgehöhlt.
Kapitel 21
Sie hatte Noel anrufen wollen. Wirklich. Aber die Angst vor ihren eigenen Gefühlen war stärker gewesen. Sie wollte ihn nicht stören. Vor allem wollte sie ihm nicht vorheulen, dass sie ihn nach kaum vierundzwanzig Stunden so sehr vermisste, dass sie am liebsten direkt wieder heimfahren wollte. Das war ihre erste Reise, eine neue Chance. Eine große Erfahrung.
Beim erneuten gemeinsamen Abendessen spielte sie jedoch wieder das graue Mäuschen, nur dass sie an diesem Abend nicht mal mehr versuchte, wirklich zuzuhören. Die Namen der neuen Gesichter hatte sie schon vergessen, ehe sie sie überhaupt gehört hatte. Ab und zu merkte sie, wie die Chefin sie argwöhnisch und vielleicht auch ein wenig enttäuscht musterte, weswegen sie es irgendwann
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