Dezembergeheimnis
Ich bin nur müde. Wie geht’s dir? Wie läuft es zu Hause?«
Er seufzte und hörte sich mindestens genauso erschöpft an, wie sie sich fühlte. »In der Bäckerei ist die Hölle los, ohne Herrn Peters geht alles drunter und drüber. Und ich kann nicht richtig schlafen, wenn du nicht da bist. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass dir was passiert ist … «
Das war nicht der Moment, um mit ihren Wehwehchen anzufangen. Daher entschuldigte sie sich und erzählte stattdessen, wie schön Zürich sei, wie sehr es ihm hier gefallen würde und dass sie unter allen Umständen noch mal zusammen herfahren mussten. Sie malte ihm die wunderschöne Architektur aus und schwärmte von den dunkelgrünen Wäldern und Bergen, durch die sie mit der Bahn gefahren waren, und ein bisschen auch davon, wie nett alle seien und wie viel sie von dieser Erfahrung mit nach Hause nehmen könnte.
Noel wurde bei ihren Erzählungen zusehends aktiver, verfiel gegen Ende hin aber immer mehr ins Schweigen, wobei Lea sich nicht sicher war, ob er sich langweilte oder ihr einfach gerne zuhörte.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, ich … es ist nur … « Er atmete hörbar aus. »Lea, würdest du … würdest du sagen, dass ich dich jetzt kenne?«
Sie lachte. »Ich denke schon. Oder was meinst du?«
»Ich glaube, dass ich noch viel lernen kann. Aber auch, dass ich viel über dich weiß, was noch kein anderer gesehen hat.« Seine Stimme klang ganz weich, Lea war sich sicher, dass er lächelte. Sie schluckte.
»Ja, da hast du wohl recht.«
»Gut, dann darf ich es jetzt ja sagen?« Lea hielt den Atem an, er holte Luft. »Ich vermisse dich.« Er sagte es, als würde er es zum ersten Mal laut aussprechen.
»Oh«, entwich es Lea. Sie zog die Knie an.
»Ich vermisse dich, Lea. Ich vermisse dich. Ich kann auf der Arbeit nicht richtig denken, nicht richtig essen … ich starre nur noch aufs Telefon und warte auf deinen Anruf. Ich weiß nicht, ob sich so
vermissen
anfühlt, aber wenn, dann ist es furchtbar und es tut weh«, er brach ab. Es klang, als könnte er für einen Moment nicht sprechen. Dann: »Aber wenn das
vermissen
ist, dann vermisse ich dich, wie noch niemand jemand anderen vermisst hat.«
Wie konnte er all das einfach so sagen? Wie konnte er einfach aussprechen, was ihr unaufhörlich durch den Kopf ging und wofür sie sich dumm und belastend vorkam? Einfach so … als wäre es überhaupt nicht peinlich und schwer über die Lippen zu bringen?
Sie wollte ihn fragen, aber ihre Stimme spielte nicht mit. Zum Glück ging ihr da mit einem flatternden Herzen eine kleine Erleuchtung auf: Er sprach mit ihr, sie sprach mit Noel. Hier, in dieser kleinen Blase, musste ihr überhaupt nichts unangenehm sein. Er war bei ihr, selbst in ihren schwachen Momenten – und sogar, wenn er nicht mal direkt da war. Und er würde bleiben, selbst wenn sie ehrlich war. Ihre Luftröhre drückte sich ein bisschen zu.
»Ist das
vermissen
?«, fragte Noel.
»Ja«, hauchte sie.
»Vermisst du mich auch?«
»Ja.« Sie flüsterte. »Unheimlich.« Mit der Hand wischte sie sich über die Wangen.
Obwohl Lea erneut nicht gut schlief, fühlte sie sich am nächsten Morgen wie neu geboren. Zwar immer noch irgendwie unvollständig, verwirrt, ängstlich und mit Heimweh versetzt, aber trotzdem kein Vergleich zum vorherigen Tag. Die Gespräche mit Sally und Frau Löwenberger hatten ihren Ehrgeiz wieder geweckt, aber vor allem Noel hatte ihren Optimismus und Elan wachgerüttelt. Zum Glück konnte das Timing fast nicht besser passen.
Es war der Tag für die Verlage; der Tag, an dem die Konferenzräume von allen Bibliothekaren geräumt wurden und sich die Vorträge nicht mehr um Sortiersysteme drehten. Eine Freundin, die noch aus der Zeit ihres ersten Exmannes stammte, machte es Frau Löwenberger und Lea möglich, sich in die – im Vergleich zu den gestrigen weitaus größeren – Sitzungen zu schleusen, vorher und nachher mit am Käsebuffet zu stehen und den großen Verlagshäusern des Landes bei den Vorstellungen ihrer Neuerwerbungen und intermedialen Konzepten zuzuhören.
In der vorletzten Reihe suchten sie sich einen Platz und fielen zwischen all den anderen Leuten gar nicht auf. Es amüsierte Lea sehr, zu sehen, wie selbst Edith Löwenberger ein wenig aufgeregt war. Im Prinzip glich der Tagesplan aber ziemlich dem der Bibliotheken: Vorträge reihten sich anVorträge; eine Person löste die nächste ab. Es war schon wieder fast zur Gewohnheit geworden,
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