Dezembergeheimnis
ihren Block wie in der Schule zu zücken und emsig Notizen zu machen.
Und trotzdem war das Gefühl an diesem Tag anders als an dem davor. Es war wie aufwachen nach einem langen traumlosen Schlaf und endlich wieder Farben entdecken. Lea erinnerte sich an ihren alten Job, den sie wirklich gerne gemacht hatte; ihr Herz schwamm in Heimatgefühlen. Es wäre zu schön gewesen, Noel bei sich zu wissen oder ihm wenigstens eine Nachricht zu schicken, um ihn daran teilhaben zu lassen.
Andererseits kehrte auch schnell die Erkenntnis zurück, dass sie damals nicht nur gestört hatte, dass keiner ihre Geschichten veröffentlichen wollte, sondern sie sich auch mehr als genug an den vielen Ecken und Kanten gestoßen hatte, mit der sich die Verlage ihre eigenen Freiheiten nahmen. Als sich die Lektoren in der Reihe vor ihr den Rang ablaufen wollten, wer pro Tag die meisten Manuskripte ungelesen in den Papierkorb schob, wurde Lea schlecht. Als sie von einem neuen Konzept hörte, wie sich Taschenbücher noch billiger produzieren lassen könnten, um gleichzeitig den Gewinn zu steigern und die Abgaben an den Autoren und alle anderen Produktionsbeteiligten zu drosseln, hätte sie sich am liebsten wie ein Ertrinkender gemeldet, um diesem Typen mit seiner dämlichen
Power
Point
-Präsentation mal ordentlich die Meinung zu geigen. Als die ersten abfälligen Kommentare zur intermedialen Verbreitung von Büchern laut wurden, wäre sie am liebsten gegangen.
Auch wenn es natürlich nicht auf jeden zutraf, hatte Frau Löwenberger in vielerlei Hinsicht leider recht: Um sie herum saßen lauter Waschlappen, die vor neuen Entwicklungen den Schwanz einzogen und stattdessen lieber hart auf die bisherigen Standards pochten. Wie hatte sie das in ihren Erinnerungen derart ausblenden können?
An diesem Abend zögerte Lea nicht, Noel anzurufen. Kaum war sie im Zimmer angekommen, schnappte sie sich das Handy und Noel war wie am Tag zuvor direkt zur Stelle. So schnell ihre Lippen sich bewegen konnten, erzählte sie ihm von den neuen Eindrücken, die sie zu sehr aufgebracht hatten, um wirklich mit jemanden ins Gespräch zu kommen, ohne sich abzureagieren. Das würde sie am Wochenende nachholen müssen. Die gesamten Schilderungen über war Noel voll bei der Sache, nur als die Sprache aufs Wochenende kam, schwieg er.
»Und nach den letzten Vorträgen am Sonntag fahren wir mit dem Zug direkt wieder heim, also bin ich, wie versprochen, Sonntag wieder da.«
»Sonntag«, wiederholte Noel abwesend.
»Ja. Wie wir es besprochen hatten.« Der letzte Satz klang eher wie eine Frage.
»Ich weiß, ich weiß. Es ist nur … nein, alles gut.«
Lea ließ sich natürlich nicht veralbern und bohrte, bis Noel nachgab.
»Erinnerst du dich an das Horoskop deiner Mutter?«, fragte er.
»Du meinst, das von Silvester?« Noel bejahte.
»Erinnerst du dich noch daran, dass mein Glückstag und mein Pechtag auf das gleiche Datum fallen?«
»Ja, das weiß ich noch. Wieso, hast du Angst?« Sie schmunzelte leise, doch Noel blieb ernst.
»Der 23. ist nicht mehr weit weg.«
»Nein … «, sie schlug den Kalender auf. »Das ist nächsten Montag. Aber du nimmst das doch nicht wirklich ernst?«
Noel antwortete wieder nicht. Im ersten Moment wollte sie lachen, dann ihm wie einem Kindergartenkind erklären, dass es nichts Unglaubwürdigeres gäbe als diese Horoskope. Doch im Endeffekt biss sie sich auf die Zunge. Er schien sich wirklich Gedanken darum zu machen und wenn er es ernst nahm, durfte sie es nicht einfach abtun.
»Okay, pass auf: Ich komme ja Sonntag an, also bin ich Montag da. Du wirst nicht allein sein.«
»Es tut mir leid, wenn ich dir damit Umstände mache … es ist nur … «
»Hey, ist schon gut«, sagte sie so sanft wie möglich. Er sollte merken, dass sie wirklich für ihn da sein wollte. »Und es ist ja auch nicht nur ein Pech-, sondern auch ein Glückstag. Du wirst sehen, am Ende wird alles gut werden.«
»Das hoffe ich.« Ein Moment des Wartens und dann: »Denkst du wirklich, dass dir das Wochenende viel bringen wird?«
Lea stutzte, antwortete aber, ohne nachzufragen, dass sie auf das Bestmögliche hoffte und es zumindest probieren wollte.
Die halbe Nacht schlug sie sich mit der Frage rum, weshalb Noel dieses Horoskop so beschäftigte. So ernst und besorgt kannte sie ihn gar nicht und es gefiel ihr auch nicht. Seit wann war er überhaupt so abergläubisch? Er hatte doch eigentlich noch nie Pech erfahren, warum fürchtete er sich also so davor?
Weitere Kostenlose Bücher