Dezembergeheimnis
verschwand mit einem Lächeln wieder zwischen den Regalen, während Lea sich erneut ihrem öden Arbeitstag widmete; nur um kontinuierlich in verworrenen Überlegungen über Noel und dieses kleine kaum merkbare Puckern in ihrem Inneren zu verfallen. Kurz vor Feierabend holte sie sich noch ihren Neujahrsbonus bei Frau Löwenberger ab, mit der sie außerdem noch einmal die Party analysieren musste und sich für die Einladung bedankte, bevor sie endlich nach Hause fahren konnte. Der kleine Zuschuss war wieder was für ihre Sparanlage; die konnte nach den Einkäufen mit Noel ein bisschen Futter gut gebrauchen. Immerhin sollte die eigentlich ihr Startkapital werden, sich einen kleinen Traum zu erfüllen.
Als sie in der Wohnung ankam, fehlte von Noel jede Spur. Einen Moment lang rutschte ihr das Herz in die Hose, als sie ihn nicht, wie üblich, auf dem Sofa sitzend vorfand, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fiel: Heute war ihr Schlafzimmer an der Reihe gewesen. Wie hatte sie das vergessenkönnen?
»Noel?«, rief sie und schob die ohnehin nur angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf.
»Ich bin hier drin«, antwortete er seltsam leise. Lea öffnete die Tür vollständig und nahm die Szene, die sich ihr dort bot, in Augenschein. Noel saß im Schneidersitz gegen das Fußende des Bettes gelehnt, vor ihm ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Die zwei anderen, die sie besaß, schien er schon durchgesehen zu haben, denn sie lagen ordentlich aufeinander gestapelt neben ihm.
Er hatte die Jalousie nicht ganz hoch-, sondern lediglich etwas aufgezogen, sodass nur spärlicher Sonnenschein den Raum flutete. Er trug ein dunkles Shirt und die eine Haushose, die sie ihm gekauft hatte, doch er sah darin längst nicht so schmuddelig aus wie sie in ihren Schlabberklamotten. Trotz des dumpfen Lichtes zeichnete sich sein scharf geschnittenes Gesicht deutlich ab und seine Haare standen wie gewohnt in alle Richtungen ab. Er war wie immer viel zu schön, um wirklich in ihrer Wohnung auf sie zu warten.
»Ich bin wieder da.« Unsicher blieb Lea im Türrahmen stehen. Es lag eine seltsam bedrückte Atmosphäre im Raum. Lea mochte sie nicht. Noel blickte auf und lächelte leicht, aber seine Augen strahlten sie nicht wie üblich an.
»Willkommen daheim.«
»Alles in Ordnung?« Sie bekam ein ungutes Gefühl im Bauch, riss sich aber aus ihrer Starre und überbrückte die wenigen Meter bis zu ihm, wo sie sich auf die Bettkante setzte. Ein kurzer Blick in das aufgeschlagene Album zeigte, dass er gerade ihre Fotos aus Kindertagen begutachtete. Innerlich musste sie kurz mit sich kämpfen, das Buch nicht einfach zuzuklappen. Aber dafür war es ohnehin zu spät.
Es war ja nicht so, dass sie wirklich etwas zu verheimlichen hatte. Peinliche Kinderfotos hatte schließlich jeder – außer Noel, und sie war sich sicher, dass selbst wenn er welche hätte, sie nichts anderes als zauberhaft wären – und über ihre Zahnspangenzeit war sie mittlerweile auch lange hinaus. Doch trotzdem verfolgte sie bei ihm immer die Angst, dass er etwas fand, was ihm nicht gefiel. Sie verschränkte die Arme, um ihre Hände zu verbergen.
»Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid, ich wusste nicht genau, ob es wirklich okay ist, dein Schlafzimmer … «
»Ist okay«, unterbrach sie ihn. Sie war es leid, dass er sich immer wegen allem entschuldigte. Außerdem kaufte sie ihm nicht ab, dass es ihm wirklich gut ging. Jetzt, wo sie direkt neben ihm saß, konnte sie die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen erkennen, und auch seine Augen selbst wirkten melancholischer als sonst.
»Ist irgendetwas passiert?«
»Nein, nichts ist passiert. Ich … ich hab mir nur die Fotos hier angesehen.«
»Aber warum bist du dann so …?« Sie rutschte vom Bett auf den Boden neben ihn und berührte ihn vorsichtig mit der Hand am Oberarm. »Wenn nichts passiert ist, warum sitzt du dann hier mit einer dicken Regenwolke über dem Kopf?«
Er schmunzelte kurz wegen der Redewendung, bevor er ansetzte, sich zu erklären. »Es tut mir leid, ich weiß, dass ich nicht das Recht dazu habe, aber … «
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und starrte dabei auf das Foto vor ihm. Es war ein Bild von Lea im Kleinkindalter wie sie mal wieder imGarten ihrer Großeltern spielte. Lea konnte sich nicht mal mehr an den Moment der Aufnahme erinnern, aber als er mit seinem Zeigefinger über ihr lachendes Kindergesicht fuhr, lag in seinen Augen so viel Sehnsucht und Trauer, dass ihr kurz der Atem im Hals stecken
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