Dezembergeheimnis
Sie sah Lea direkt in die Augen. »Ich war froh, als ich Sie vor ein paar Tagen wieder mit dem Stift in der Hand gesehen habe. Auch wenn es mich nichts angeht, habe ich mir im vergangenen Jahr doch ein wenig Sorgen um Sie gemacht. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass Sie die Arbeit in der Bibliothek nicht glücklich macht. Ich glaube, Sie brauchen mal wieder eine neue Herausforderung.«
Frau Löwenberger wartete auf eine Reaktion; Lea starrte sie mit leicht geöffneten Lippen an. Meinte sie das wirklich ernst?
»Ich, ähm, ich weiß nicht, was ich sagen soll … Ist das Ihr Ernst? Meine Geschichten?«
Frau Löwenberger schenkte ihr einen bedeutungsvollen Blick. »Ich scherze nie. Ich mache auch keine Versprechungen. Vielleicht will IhreGeschichten immer noch niemand und trotzdem könnten Sie Ihren Fuß wieder in die Verlagswelt bekommen. Sagen Sie einfach zu.«
Lea biss sich auf die Unterlippe. Ihre Geschichten? Eine solche Unterstützung von ihrer Chefin? Wo war der Haken bei der Sache? »Kann ich vielleicht noch mal eine Nacht drüber schlafen?«
Ihre Chefin schob die Augenbraue noch ein wenig höher. »Was hält Sie auf? Haben Sie etwa Angst?«
Nun war sie schon die Zweite, die Lea das fragte. Natürlich hatte sie Angst, vor vielem. Aber eigentlich war sie immer gut darin gewesen, sie nicht als leuchtend rotes Warndreieck über dem Kopf zu tragen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. »Wahrscheinlich … Aber ich müsste das auch noch zu Hause abklären.«
»Ich hoffe, Sie meinen damit nicht Ihre Eltern.«
»Nein.« Lea schmunzelte. »Nicht meine Eltern.«
Das schien Edith Löwenberger zu überraschen; jedoch im positiven Sinne, denn sie nickte. »Gut, tun Sie das. Aber morgen brauche ich Ihre Antwort.«
Lea versicherte ihr diese und wurde damit verabschiedet. In der Tür jedoch hielt sie inne und drehte sich noch einmal um. »Verzeihen Sie die Frage, Frau Löwenberger, aber … «
»Ja?«
»Warum wollen Sie das für mich tun?«
Ein Lächeln stahl sich auf die Lippen der Blonden und sie nickte, ehe sie den Kopf schief legte. »Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten, Lea? Der wahre Reichtum, den Geld einem verschafft, ist, dass man aufhören kann, bei jedem Schritt das Für und Wider zu wälzen. Man macht einfach, was man für richtig hält.«
»Und mir zu helfen, halten Sie für richtig?«
»Gibt meinem Karma bestimmt ein paar Pluspunkte. Ein guter Start ins neue Jahr. Und außerdem hat mir Ihre Wut gefallen, mit der sie hier angekommen sind. Hat mich an mich selbst bei meiner Scheidung erinnert und wir wissen, was mir das am Ende beschert hat.«
Sie mussten beide schmunzeln, Lea verabschiedete sich und trat endlich den wohlverdienten Heimweg an. Doch als sie zu Hause ankam, wartete kein Noel auf sie. Stattdessen begrüßte sie das blinkende Lämpchen des Anrufbeantworters mit einer Nachricht.
»Hey Lea«, rief Noels dunkle Stimme blechern durch ihr Wohnzimmer. »Du, auf der Arbeit ist heute viel los, Frau Peters hat sich den Fuß verletzt und setzt für den Rest des Tages aus. Ich werde länger bleiben. Bis nachher. Ich freue mich auf dich.«
Lea stöhnte. »Wie schön, weiß er jetzt also, wie man ein Telefon und einen Anrufbeantworter benutzt. Aber weißt du was, Noel? Ich habe dir das
nicht
gezeigt, damit du mir
solche
Nachrichten drauf sprechen kannst!« Als würde sie das Gerät mit dem Zeigefinger durchbohren wollen, drückte sie auf die Löschen-Taste. »Ich hab doch aber Neuigkeiten, die ich dir erzählen wollte. Warum bist du nicht da, wenn ich dich brauche? Job, pah! Geld, pfft, braucht kein Mensch!«
Sie wusste, dass sie übertrieb. Aber das hinderte sie nicht daran, sich die Stiefel von den Füßen zu treten, die Jacke von sich zu werfen und sich beinahe mit ihrem Schal zu erwürgen, ehe sie sich direkt in die Küche stellte, die Pfannen rausholte und sämtliches Gemüse aus dem Kühlschrank mit dem superscharfen asiatischen Schnippelmesser in Mikro-Quadrate verwandelte. Dabei murmelte sie ununterbrochen »Du blöder Idiot, du bist ein absoluter … argh! Geh doch zu deiner blöden Stella« und ließ sich von den Zwiebeln sogar ein paar Tränchen in die Augen treiben.
Kurz nach zwanzig Uhr öffnete sich endlich die Haustür. Lea war inzwischen auf die Couch gezogen – wieder mit Wein, aber zusätzlich auch mit Block und Stift, bewaffnet. Noel betrat völlig außer Atem die Wohnung, doch seine Augen leuchteten.
»Tut mir leid, dass es so spät
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