Dezembergeheimnis
Kribbeln in ihrem Brustkorb treffender bezeichnen können. Lea hatte Angst.
Als sie Maria am Donnerstag auf der Arbeit begrüßte, dachte sie im ersten Moment, dass es ihrer Freundin viel besser ginge. Sie hatte ihr Makeup wieder ans Tageslicht gelassen und die Augenringe damit von eben diesem verbannt. Sie lächelte, aber leider zu viel, als dass Lea es ihr abkaufen konnte. Trotzdem stieg Lea auf die Maskerade ein und quasselte mit ihr über Themen, die nicht weiter von Christian »Chris« Dreckspenner entfernt sein konnten.
Lea sah, wie viel Mühe Maria sich dabei gab, sich nicht hängen zu lassen. Automatisch dachte sie natürlich an Noel und wie es ihr gegangen war, als sie gedacht hatte, er hätte sie verlassen. Sie war bisher nur dieses eine Mal in einer solchen Situation gewesen und das auch nur für ein paar Stunden; sie konnte es sich nicht ausmalen, wie es sein musste, wenn der, den man liebte, einem einfach den Rücken zuwendete. Und sie liebte Noel ja noch nicht mal. Maximal mögen. Ja, mögen klang gut.
Auf jeden Fall tat Maria ihr unendlich leid. Genau wie Sally.
Das sind sie eben
, dachte Lea,
die Schattenseiten der Liebe. Das habe ich ja immer gesagt: All das vorher und drum rum ist den Schmerz am Ende wahrscheinlich doch nicht wert.
Aber dann dachte sie auch wieder an Noel und musste sich eingestehen, dass sie diese Einstellung nicht mehr ganz so standhaft vertreten konnte wie früher.
Trotz der Ermahnung ihrer Chefin zückte Lea auch an diesem Tag wieder das Notizbuch. Sie hatte gestern mehrere Seiten vollgeschrieben und fühlte sich gut dabei, es wieder zu tun. Eigentlich bildete sie sich auch ein, dieses Mal besonders aufmerksam und vorsichtig zu sein, um eben nicht noch einmal erwischt zu werden, aber kurz bevor sie – schon in Mantel, Schal und Mütze – die Bibliothek verlassen wollte, hielt sie Frau Löwenberger zurück.
»Frau Wegener? Würden Sie bitte noch mal kurz in mein Büro kommen?«
Mit wackeligen Knien leistete Lea der Bitte Folge, bis sie die Tür des kleinen quadratisch geschnittenen und mit Regalen gesäumten Zimmers hinter sich geschlossen hatte.
»Setzen Sie sich ruhig für einen Moment.«
Das Büro war wie immer sehr ordentlich, nirgendwo lagen Papiere oder Akten herum, nur auf dem Tisch stapelten sich zwei, drei aufgeschlageneOrdner. Über diese musterte Edith Löwenberger sie, ehe sie sich vorbeugte und auf dem Schreibtisch abstützte.
»Frau Wegener, ich habe nachgedacht und mir etwas überlegt. Was würden Sie davon halten, mich nächste Woche auf meine Geschäftsreise in die Schweiz zu begleiten? Es findet eine Tagung statt und ich habe dort einige Angelegenheiten für neue Projekte zu klären und könnte eine helfende Hand gut gebrauchen. Und Sie würden mal aus der Bibliothek rauskommen, vielleicht sogar ein paar neue Kontakte schließen.« Sie beobachtete Lea einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Ich glaube, es wird Zeit, dass Sie mal was Neues sehen und wenn es nur für ein paar Tage ist. Und Zürich ist immer einen Besuch wert.«
»Ich war noch nie … «, murmelte Lea.
»Außerhalb des Landes?«
»Eher außerhalb der Stadt.«
Edith Löwenberger lächelte. »Also sagen Sie zu?«
»Ich weiß nicht, ehrlich gesagt. Ich weiß nicht, ob ich einfach so … « Lea zog die Stirn in Falten und sah auf die Hände in ihrem Schoß, die am Saum des Oberteils spielten. Weggehen? Noel alleine lassen?
»Es wäre nur für eine Woche. Nächsten Montag geht der Zug und am Samstagabend fahren wir schon wieder zurück. Sonntag sitzen Sie wieder in Ihrer kleinen Wohnung.«
Lea zögerte trotzdem. Warum sollte sie zusagen? Sie hatte kein Interesse daran, die Stadt zu verlassen. Auch wenn der Blick ihrer Gegenüber verriet, dass sie dringend etwas gegen ihre Weltfremdheit tun sollte, hieß das noch lange nicht, dass Lea das auch wollte. Wollte sie nämlich nicht.
Und dann kam da noch Noel dazu. Sie konnte ihn unmöglich eine ganze Woche alleine lassen. Andererseits … hatte er dafür ja jetzt schließlich Stella als Notfallkontakt.
»Aber wie soll ich das denn bezahlen?«
»Seien Sie nicht albern, die Kosten übernehme selbstverständlich ich. Das beinhaltet Ticket sowie Unterkunft.«
»I-ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann.«
Nun atmete die Blonde hörbar aus. »Okay, Lea, hören Sie: Es gibt einen Grund, weshalb ich ausgerechnet Sie mitnehmen möchte. Es gibt jemanden, den ich Ihnen vorstellen möchte – oder besser gesagt, Ihre Kurzgeschichten.«
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