Dezemberglut
über mein Gesicht tropften. Zum ersten Mal seit meiner Entführung weinte ich. Ich weinte so heftig, wie ich noch nie geweint hatte, bis ich Stunden später nur noch schluchzte.
Ich war nicht müde, aber erschöpft , und schaffte es endlich einzuschlafen. Aber es waren Albträume über Schuld und Angst, die sich hineinstahlen und mich quä l ten.
Gegen neun Uhr wurde ich wach. Ich sah keine Sonne hinter den Vorhängen, und das war gut so. Sie hätte nicht zu meiner Stimmung gepasst.
Ich hatte Kopfschmerzen, und am liebsten wäre ich gar nicht aufgestanden. Ich war so müde, dass nur Dornröschen meinen Zustand hätte nachempfinden kö n nen, also nahm ich mir vor, auch den Rest des Tages im Bett zu verbringen. I m merhin schaffte es Püppi durch ihr ständiges Winseln und Kläffen, mich gegen Mittag zum Aufstehen zu überreden. Ich gab ihr Futter und Wasser. Ausführen musste ich sie nie, mein Vater hatte für sie eine Katzenklappe eingebaut. Zum Glück sind Dackel klein.
Kaum hatte ich mich wieder hingelegt, klingelte es so hartnäckig, dass ich mich erneut aus dem Bett quälte. Frau Bergdorf stand an der Tür. Eigentlich mochte ich sie sehr gern, aber nun ging sie mir fürchterlich auf die Nerven. Gab es eigen t lich irgendwen, der mir nicht auf die Nerven ging?
„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie. Ihre dunklen Knopfaugen musterten mich aufmerksam. „Püppi hat so lange gebellt, und ich habe noch kein Licht gesehen.“
Anteilnahme ist das Gute und Schlechte an Nachbarschaft.
„Ja. Ich bin gestern spät ins Bett gegangen. Sie fühlt sich etwas vernachlässigt.“
Frau Bergdorf nickte sofort. „Dann ist es ja gut. Und wenn du Lust auf ein Stück Kuchen hast, dann komm mich besuchen. Ich würde mich sehr freuen.“
„Danke, das werde ich bestimmt.“ Ich verabschiedete mich, und da ich sowieso schon aufgestanden war, verlegte ich meinen Liegeplatz vom Bett nach unten ins Wohnzimmer vor den Fernseher.
Es gibt Tage, da hat man mit Vampiren zu tun, und es gibt Tage, da hat man Depressionen. Heute war beides zusammengefallen, und ich stellte fest: Beides zusammen ging nicht.
Ich rief in der Zentrale an und erklärte, dass mich wegen einer starken Erkältung heute niemand abholen brauchte. Dann legte ich mich wieder auf das Sofa und zappte mich durch das Fernsehprogramm. Endlich fand ich etwas, was mich int e ressierte: Eine Serie über eine Frau, die mit den Geistern Verstorbener sprechen konnte. Die Folge berührte mich so sehr, dass ich schon wieder weinen musste. Ich überlegte, wie es wäre, nochmals mit meinen Eltern sprechen zu können. Wie in dieser Serie. Denn ich hatte ihnen viel zu selten gesagt, wie lieb ich sie hatte. Ich wünschte, ich wäre freundlicher gewesen. Hilfsbereiter. Nicht so schnippisch und genervt.
Wochenlang keine Tränen und nun ganze Sturzbäche.
Das Telefon machte sich einige Male bemerkbar, aber es fiel mir nicht schwer, es zu ignorieren.
Am frühen Abend klingelte es an der Haustür Sturm.
Püppi raste zur Tür und kläffte aufgeregt. Anstatt zwischendurch zu knurren, was sie sonst immer tat, stieß sie immer wieder ein freudiges, hohes Jaulen aus.
Alarmiert setzte ich mich auf. Aus dem Wohnzimmerfenster war die Straße nicht einzusehen. Ich stellte den Fernseher leiser, stand vom Sofa auf, ließ das Licht ausgeschaltet und schlich vorsichtig in die Küche.
Verflixt. Verflixt. Verflixt. Ich hatte es geahnt. Vor dem Haus stand ein schwa r zer Porsche. Ich hatte wieder einmal nicht nachgedacht und keinen Plan B. E i gentlich hatte ich noch nicht einmal einen Plan … A?
Ich drückte mich an die Tür, damit ich von draußen nicht gesehen werden konnte, und duckte mich. Ich würde wieder zurück ins Wohnzimmer schleichen und mich unter meine Decke legen. Irgendwann musste das Klingeln ja aufhören. Irgendwann würde er wieder wegfahren. Ganz bestimmt.
Mann, ich konnte mich noch nicht einmal selbst belügen!
Da war ein kurzes Pochen an der Tür. Ich sprang hastig einen Schritt zurück. Hatte er mich gesehen? Gehört? Gespürt?
Ich hielt den Atem an und wagte nicht, mich zu bewegen. Musste ich ihn he r einlassen? Konnte ich so tun, als wäre ich nicht da? Machte das überhaupt Sinn bei einem Vampir? Gleichzeitig war ich hin- und hergerissen zwischen Empörung – wieso wollte er meine plötzliche Erkrankung nicht respektieren? – und meinem schlechten Gewissen. Immerhin hatte ich eine Lüge als Ausrede benutzt.
Das Pochen war verstummt. Ich lauschte mit
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