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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sehen. Ich habe sowieso noch etwas in Harwich zu erledigen, und dabei hole ich mir die Papiere, wenn nötig, ganz offiziell mit einer Hausdurchsuchung. Bis ich wiederkomme, muss meine Base tot sein! Sonst verfüttere ich dich an die Hunde.«
    Lore zog sich mit zitternden Händen an und spürte gleichzeitig eine solche Wut in sich aufsteigen, dass sie Ruppert am liebsten an die Kehle gegangen wäre. Mühsam riss sie sich zusammen und versuchte, ihre Stimme nicht allzu ängstlich klingen zu lassen.
    »Woher weiß ich, ob Sie Ihr Wort halten, Herr von Retzmann? Sie könnten mir ja auch ein Zeichen Ihres guten Willens geben, zum Beispiel ein ordentliches Frühstück mit Kaffee und heißer Milch und vorher warmes Wasser zum Waschen!«
    »Also gut, aber es wird die Henkersmahlzeit für die kleine Giftkröte da sein«, erklärte er und zeigte auf Nati, die schlaff auf dem Bett lag und ihn unter halbgeschlossenen Lidern beobachtete.
    »Und die deine, wenn du mir nicht gehorchst«, setzte er mit einem kalten Lachen hinzu und winkte seinen Handlanger heran. »William, bring ihr das Waschgeschirr und etwas zu essen. Ich habe heute meinen großzügigen Tag!«
    William quittierte die Worte mit einem widerlichen Grinsen.
    »Wird alles erledigt, Chief! Aber ich finde, dass unser Schätzchen mir dafür dankbar sein sollte, weil ich so gut für sie sorge.«
    »Schweinekerl!«, sagte Nathalia trotzig, aber ihre Augen waren beinahe schwarz vor Angst. Lore schüttelte es, als William sie am Busen fasste und ihn drückte. Dabei entblößte er lückenhafte Zähne und zeigte ihr die Zunge, die wie ein hässlicher feuchter Wurm über die Lippen strich.
    Dann verschwanden beide Männer und ließen Lore in einem Zustand völliger Niedergeschlagenheit zurück.

VIII.
     
    William kam bereits nach wenigen Minuten zurück und brachte einen Krug voll Wasser und eine angeschlagene Schüssel mit, die er auf den wackligen Stuhl stellte. Ihm folgte der Lakai mit dem Galgenvogelgesicht, der ein paar Stücke Brot und zwei Becher bei sich hatte, die eine dampfende, schmutzig braune Brühe enthielten.
    »Sis angericht!«, radebrechte er auf Deutsch und ließ das Tablett schwungvoll auf dem Bett landen, ohne etwas zu verschütten. Auch Ruppert steckte noch einmal den Kopf zur Tür herein, alswolle er noch etwas sagen. Er nickte Lore jedoch nur spöttisch lächelnd zu und verließ zusammen mit seinen Leuten das Zimmer. Noch auf der Treppe brüllte er Anweisungen. Anscheinend hatte er tatsächlich vor, das Haus am frühen Morgen des nächsten Tages zu räumen.
    Trotz seines aufgeblasenen Gehabes hatte Lore den Eindruck, dass Ruppert der Boden unter den Füßen zu brennen schien. Das hieß aber auch, dass er seine Drohungen ganz sicher wahr machen würde.
    Sie überwand ihren Ekel vor dem schmutzigen Geschirr, brach das Brot und tauchte die Stücke in den noch warmen Milchkaffee. Das karge Mahl schmeckte wesentlich besser, als es aussah, und es wärmte sie von innen.
    Nati schien der gleichen Meinung zu sein, denn sie schlang das Brot geradezu hinunter. »Ruppert ist ein widerliches, gemeines Aas!«, sagte sie im Tonfall eines Dankgebets, nachdem sie den letzten Krümel verputzt hatte. Dann rutschte sie an das Fußende des Bettes und sah sich Lores Kette an.
    Auch Lore stand auf, wusch sich die Hände mit dem eiskalten Wasser aus dem Krug und trocknete sie an einem der Bettlaken ab. Ruppert war nicht gerade großzügig in seinen Gesten, dachte sie. Wie würde er sie erst behandeln, wenn sie sich ihm völlig auslieferte? So wie sie ihn einschätzte, würde er sie für seine Zwecke benutzen und dann wegwerfen wie einen löchrigen Putzlumpen. Empört schüttelte sie den Kopf. Ganz gleich, was dieser Lump sagte oder tat, sie würde lieber mit einem reinen Gewissen sterben, als sich in seine mörderischen Geschäfte hineinziehen zu lassen.
    Auf der
Deutschland
war der Tod allen Menschen an Bord so nahe gewesen, dass sie sich damit abgefunden hatte, selbst zu sterben. Aber durch die Hand eines solchen Schuftes umzukommen, dem vielleicht schon die Obrigkeit auf den Fersen war – dagegen bäumte sich alles in ihr auf. Doch diesmal schien es keinen Ausweg zugeben und keinen Retter wie die
Liverpool
, die im allerletzten Moment erschienen war, um die Überlebenden aufzunehmen.
    Während Lore sich mit diesen Gedanken quälte, wurde es unten auf dem Hof unruhig. Die Kette war gerade lange genug, um zum Fenster treten und hinausblicken zu können. Auf dem Vorplatz stieg

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