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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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ich werde sterben, damit du leben darfst. Sonst macht es der Schw… der böse Ruppert, und der tut mir extra weh. Er hat Opa sicher auch sehr weh getan, als er ihn abgemurkst hat! Ich will auch ganz tapfer sein. Vielleicht komme ich dann doch in den Himmel.«
    »Nati, hör auf damit! Ich werde dich nicht umbringen. He! Woher weißt du eigentlich, dass Ruppert deinen Großvater ermordet hat? Ich habe es außer Mary niemandem erzählt, und da hast du geschlafen.«
    »Du sprichst im Schlaf! Du hast ganz laut gerufen, dass Ruppert ein Mörder ist und meinen Opa vom Mast hinuntergestoßen hat. Mary ist durch das Zimmer gehumpelt und hat dich richtig schütteln müssen, sonst hättest du das ganze Haus aufgeweckt.«
    »Oh! Das wusste ich nicht. Ich wollte es dir erst später sagen. Das mit deinem Großvater, meine ich. Alle auf dem Schiff haben gesehen, wie Ruppert gegen ihn geprallt ist, aber jeder hat gemeint, es sei ein Unfall gewesen. Doch das war es nicht.«
    »Natürlich war es das nicht!«, antwortete Nati altklug. »Wenn Ruppert seine Schmutzfinger im Spiel hat, dann geschieht immer etwas Böses. Das hat Opa öfter zu Klaus, seinem Kammerdiener, gesagt. Der hatte richtig Angst vor Ruppert und hat bereits gezittert, wenn man nur seinen Namen ausgesprochen hat. Aber jetzt ist er auch mausetot, der arme, alte Dummkopf.«
    »Liebes, das sagt man nicht! Man darf über die Verstorbenen nur Gutes reden, weißt du das nicht? Sonst kommen sie zurück und werden böse.«
    »So? Dann reden wir ganz schnell Böses über Opa. Dann kommt er wieder und dreht Ruppert den Hals um!«
    Lore schüttelte bedauernd den Kopf. »Nein, Nati! So geht das nicht. Tote kommen höchstens als Gespenster zurück, und diekönnen einem eigentlich gar nichts tun. Sie erschrecken nur die Leute.«
    »Schade«, seufzte Nati enttäuscht. »Dann werde ich eben nach meinem Tod ein Gespenst und erschrecke Ruppert so, dass er nie mehr schlafen kann! Vielleicht fällt er dann vor Schreck eine Treppe hinunter und bricht sich den Hals, wie es Opas Pferdeknecht passiert ist.«
    »So jemand Böses wie dieser Ruppert fürchtet sich nicht vor Gespenstern. Der hat gewiss noch sehr viel mehr Leute als deinen Großvater auf dem Gewissen, und ich glaube, er schläft immer noch tief und fest. Komm, Nati, noch sind wir nicht tot. Wo Leben ist, da ist auch Hoffnung, hat unser alter Pastor immer gesagt. Schlaf jetzt! Vielleicht fällt uns morgen im Hellen etwas ein, womit wir diesem mörderischen Halunken eine lange Nase drehen können.«
    Von Nati kam keine Antwort mehr, so dass Lore schon annahm, das Kind sei tatsächlich eingeschlafen. Die Kälte kroch an den Beinen hoch und biss in ihr Fleisch, so dass sie jeden Gedanken an eine erlösende Nachtruhe aufgab. Doch gerade als sie trotz ihres inneren Aufruhrs ein wenig eingenickt war, riss Natis Stimme sie wieder hoch.
    »Aber du versprichst mir, dass du mich umbringst! Ich will nicht, dass dieser Schweinekerl mich mit seinen Schmutzpfoten anfasst! Los! Sag ja! Sonst kann ich nicht schlafen!«
    Lore stöhnte auf und sagte: »Ja!« Es klang böser als beabsichtigt.
    »Schön!«, murmelte Nati, und das war wirklich das letzte Wort, das sie in dieser Nacht äußerte.

VII.
     
    Lore kam zitternd und völlig steifgelegen zu sich und sah, dass eine graurote Morgendämmerung durch die schmutzigen Fenster drang. Es war, als hätten blutige Finger eine Spur auf die Wolken gemalt. Schnell tastete sie nach Nati und atmete erleichtert auf, als sie den warmen Körper spürte. Dann aber vernahm sie Geräusche und laute Stimmen von unten heraufdringen, und ihr kam das ganze Elend ihrer Lage wieder zu Bewusstsein.
    Ruppert und seine Männer schienen Frühaufsteher zu sein, denn es war bereits eine heftige Diskussion im Gange, von der sie zu ihrem Bedauern kein Wort verstehen konnte. Dazwischen klapperte Geschirr, Töpfe schepperten, und ein Teekessel pfiff durchdringend.
    Lore schob Nati, die sich wie ein Kätzchen in ihrem Schoß zusammengerollt hatte, von sich weg und stand auf, um Leben in ihre eingeschlafenen Beine zu bekommen. Ihre Fußsohlen schmerzten, als würden sie von tausend Nadeln zerstochen, ihr Mund war ausgedörrt, und ihr Magen knurrte laut. So schlecht wie an diesem Morgen hatte sie sich nicht einmal nach der eisigen Nacht auf der Ausguckplattform der
Deutschland
gefühlt. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, um im Schlaf Vergessen zu finden. Doch ihr war klar, dass Ruppert bald kommen würde, um zu

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