Dezembersturm
Ruppert gerade in einen offenen, zweirädrigen Wagen, der nur von einem Pferd gezogen wurde. Die im Zwinger eingesperrten Hunde machten einen Höllenlärm, als der Wagen das Grundstück verließ. In der Nacht hatte Ruppert sie wohl innerhalb der Umzäunung umherstreifen lassen, denn Lore hatte sie abends unter ihrem Fenster herumschnüffeln hören.
Kaum hatte Ruppert die Einfahrt passiert, wurden die Tiere wieder still, obwohl Edwin, William und zwei weitere Männer eifrig zwischen dem Haus und der Remise hin und her liefen und Koffer und Kisten in die große Reisekutsche luden. Die von einem großen Ledertuch bedeckte Ablage hinter dem Kutschkasten nahm eine schwere Geldtruhe auf, die gut festgezurrt und mit Säcken und Lederbeuteln bedeckt wurde. Für einen Augenblick erwog Lore, Nati dazu zu bringen, hinunterzulaufen und sich dort zu verstecken. Aber die Männer würden die Kleine höchstwahrscheinlich schon auf dem Weg dorthin entdecken, und selbst wenn es ihr gelang, waren da immer noch die Hunde – und die sahen aus, als käme ihnen ein Kind wie Nati zum Frühstück gerade recht.
Als Lore sich zu der Kleinen umdrehte, hatte das Mädchen seinen Mantel und das raschelnde Kleid ausgezogen und wollte sich in dem Nachthemd, das sie darunter trug, aus dem Zimmer schleichen. Dabei zitterte Nati so vor Kälte und Schwäche, dass ihr die Zähne klapperten.
»Hiergeblieben!«, fauchte Lore sie an. »Bist du denn verrückt geworden? Du kannst doch nicht halbnackt herumlaufen! Zieh dich sofort wieder an, sonst holst du dir eine Lungenentzündung!«
»Ja, Fräulein Gouvernante!«, antwortete Nati und verzog das Gesicht. »Ich wollte nur schauen, ob ich unten etwas finde, womit man diese doofe Kette wegmachen kann!«
Lore streifte Nati die restliche Kleidung wieder über und gab ihr einen sanften Klaps. Gleichzeitig versuchte sie, die Tränen wegzuwischen, die ihr selbst unaufhörlich über das Gesicht liefen.
Nati reichte ihr einen Zipfel ihres Nachthemds. »Du kannst ruhig da hineinschneuzen. Das hat Opas Pferdeknecht auch immer getan, wenn er nachts zu einem der Rösser musste.«
Lore kicherte unwillkürlich. Mit Natis Erziehung stand es wirklich nicht zum Besten. Aber ehe sie etwas sagen konnte, deutete das Kind auf die Kette. »Das hat mal eins meiner Kindermädchen mit mir gemacht! Zur Strafe, hat sie gesagt, weil ich frech war und nicht im Bett bleiben wollte, wie sie es befohlen hatte. Da habe ich Opas Schuhputzjungen gerufen, und der hat einfach die Stangen am Fußende vom Bett mit einem Holzscheit aus dem Kamin zerbrochen und mich befreit. Dann hat er mich mit der Kette um den Bauch zu Großtante Ermingarde gebracht. Die hat einen hysterischen Anfall bekommen und das Kindermädchen auf der Stelle entlassen. Der Schuhputzer ist auch entlassen worden – weil er das wertvolle Bett ruiniert hat, statt einfach jemanden zu rufen. Aber Opa hat mir später gesagt, er habe ihm eine neue, bessere Stelle verschafft. Wenn wir jetzt ein Holzscheit hätten, könnten wir dieses Bett kaputt machen und dich befreien.«
Lore sah sich das Bettgestell genauer an. Das Holz war trocken und wurmstichig, doch als sie daran zerrte, widerstand es ihren Kräften. »Mit einem Holzscheit ginge es vielleicht. Aber das würde uns auch nicht weiterhelfen. Wenn wir die Treppe hinunterlaufen, sehen uns die Kerle sofort. Da müssten wir schon aus dem Fenster steigen …«
Nati klatschte begeistert in die Hände. »Ja, das tun wir! Ich kann klettern! Wirklich! Ich bin zu Hause schon zwei Mal aus demFenster gestiegen.« Bevor Lore sie daran hindern konnte, zog sie sich an der Fensterbank hoch und sah hinunter. »Aber da war es nicht so hoch wie hier«, setzte sie leise hinzu.
»Vergiss nicht: Uns fehlt ein Holzscheit!«, sagte Lore mit einem dicken Kloß in der Kehle, der ihre Stimme halb erstickte. »Wir kämen trotzdem nicht weit, schon wegen der Hunde! Ach Nati, ich wünschte, es wäre schon alles vorbei! Ich …«
Sie biss sich auf die Lippen. Sie durfte vor dem Kind keine Angst zeigen, sondern musste alles tun, um ihm Mut zu machen. Bevor sie etwas sagen konnte, vernahm sie Schritte auf der Treppe. Dann platzte William in den Raum. Er grinste breit, und in seinen Augen las Lore eine Gier, die ihr den Magen umdrehte. »Ihr habt brav aufgegessen«, sagte er mit einem Seitenblick auf die leeren Becher. Dann trat er näher an Lore heran und drängte sie Richtung Bett.
»Der Chief hat gesagt, dass ich dir zeigen soll, wie du später an
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