Dezembersturm
überprüfen, ob sie Nati schon getötet hatte.
Noch während sie überlegte, mit welcher Ausrede sie Zeit gewinnen konnte, trat Ruppert auch schon ein. Diesmal glich er nicht gerade einem Triumphator, sondern sah übernächtigt aus und machte ein Gesicht wie eine gereizte Bulldogge. Sein Ausflug am gestrigen Abend schien nicht sehr erfolgreich verlaufen zu sein. Lore hatte jedoch keine Zeit, Schadenfreude zu empfinden, denn Rupperts Gesichtsausdruck wechselte so schnell, als hätte er sicheine Maske übergestülpt, und wirkte nun souverän und zugleich belustigt.
»Du scheinst mir ja ein außergewöhnlich stures Frauenzimmer zu sein«, sagte er und deutete auf Nati, die wimmerte und röchelte, als läge sie wirklich in den letzten Zügen. »Was versprichst du dir eigentlich davon, dich meinem Willen zu widersetzen? Glaubst du, es käme ein Engel mit dem Flammenschwert, um dich zu retten? Niemand weiß, wo du bist, und es wird sich auch kein Mensch dafür interessieren. Dabei habe ich dir gestern ein sehr gutes Angebot gemacht …«
»Und warum?«, schrie Lore ihn an. »Doch nur, um mich hereinzulegen! Ich soll Nati töten, und dann klagen Sie mich des Mordes an und waschen Ihre Hände in Unschuld!«
Ruppert lachte zynisch auf. »So viel Misstrauen in so einem kleinen Köpfchen! Ich gebe zu, ich habe diese Möglichkeit in Erwägung gezogen. Aber es wäre meinen Plänen nicht förderlich, wenn ich dir Gelegenheit gäbe, vor Gericht auszusagen. Das würde schlichtweg zu viel Staub aufwirbeln. Ich möchte das Retzmann-Erbe jedoch ohne größeres Aufsehen übernehmen. Deswegen wäre es mir lieber, wenn du mir helfen würdest, das kleine Hindernis unauffällig aus dem Weg zu schaffen. Wie ich gestern schon sagte, bin ich bereit, mich mit einer ordentlichen Summe erkenntlich zu zeigen.«
Lore biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, so dass ihre halbaufgelösten Zöpfe flogen. »Tausend Mark für einen Mord, der Ihnen wahrscheinlich Hunderttausende einbringt? Ist das nicht ein bisschen knauserig?«
Ruppert stieß einen verblüfften Laut aus und starrte sie an. »Was sind das denn auf einmal für Töne? Willst du vielleicht mehr Geld aus mir herauspressen? Ich habe mir schon gedacht, dass du dich nicht aus uneigennützigen Gründen mit dieser kleinen Giftkröte abgegeben hast. Gib es zu, du wolltest dich ins gemachteNest setzen. Nun, darüber können wir reden. Wenn du diese kleine Angelegenheit für mich erledigst, sorge ich für deine Zukunft …«
»Und wie?«, unterbrach Lore ihn. »Mit einer Tasse voll Gift oder einem Messer in den Rücken? Ich habe genau gesehen, wie Sie den alten Grafen umgebracht haben, und jetzt wollen Sie mich nicht nur zu Ihrer Mitwisserin, sondern auch zu Ihrer Komplizin machen.«
»Ist dieser Gedanke so abwegig?«, fragte Ruppert lachend. »Sag, warum hast du mich nicht schon an Bord der
Deutschland
des Mordes beschuldigt? Du hast von Anfang an vorgehabt, mich zu erpressen! Gib es doch zu!«
Lore schauderte. Dieser Mann war wirklich völlig verdorben und unterstellte seine eigene Unmoral auch jedem anderen. Für sie aber galt es, Zeit zu gewinnen. Vielleicht konnte Mary doch noch ein Wunder bewirken. Daher zuckte sie nur mit den Schultern und presste die Lippen zusammen.
Ruppert nahm es als Zustimmung. »Unter diesen Umständen werde ich dich natürlich nicht laufenlassen. Aber wenn du tust, was ich sage, wäre das für uns beide von Vorteil. Mir fehlt nämlich ein tatkräftiges Mädchen unter meinen Leuten, das nicht unter kleinbürgerlichen Moralbegriffen leidet. Es wird dein Schaden nicht sein!«
Bevor Lore etwas darauf antworten konnte, setzte er seine Rede mit sichtlichem Stolz fort. »Du denkst wahrscheinlich, ich wäre nur ein kleiner Gauner, der sich mit gefälschten Wechseln, Falschspiel und Beihilfe zum Versicherungsbetrug über Wasser hält. So hat es dir mein Großvater erzählt, nicht wahr? Aber das waren sozusagen Jugendsünden. Der alte Geizkragen hatte ja keine Ahnung, welche Möglichkeiten er mir in die Hand gegeben hat, als er mir reuigem Sünder eine Stelle bei einem großen Schiffsmaklerbüro verschaffte. Ich habe die Zeit gut genutzt, um meine altenKontakte zu guten Freunden zu pflegen und eine Menge neue zu knüpfen.
Zuerst waren es Schieber und Schmuggler aller Art, denen ich gegen gutes Entgelt behilflich sein konnte, ihre Waren mit gefälschten Papieren auf verschiedenen Frachtschiffen unterzubringen. Doch schon bald konnte ich meine wachsende
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