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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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halten. Der Lakai, der neben ihm gesessen war, stieg ebenfalls herab, um ihn dabei zu unterstützen. Allerdings konnte Lore jetzt nur noch die Köpfe der Pferde sehen, denn der Wagen war bis zum Haus gerollt und wurde nun halbdavon verdeckt. Das war bedauerlich, denn sie hätte zu gerne gewusst, ob der gleiche vornehme Passagier in der Kutsche saß wie am Vortag.
    Edwin stand breitbeinig vor der Remise, die Hände in die Hüften gestemmt, und schien nicht bereit, dem unverhofften Gast auch nur einen Schritt entgegenzugehen. William und der vierte Mann hielten jeweils zwei jaulende und bellende Hunde an der Leine und stellten sich so auf, dass der Fremde, der gerade um die Ecke bog, zwischen sie geraten musste.
    Lore erblickte einen vornehmen Herrn mit Biberpelzhut und einem Mantel, der, obwohl er aus einem sehr wertvollen Stoff geschneidert war, dem seines Kutschers sehr ähnlich sah. Er trug lange, enge Hosen und glänzende Schuhe und wirkte wie ein Herr von Stand. Als er grüßend den Hut abnahm, erkannte sie, dass es tatsächlich der Reisende vom Vortag war.
    Dieser Mann gehörte sicher nicht zu Rupperts Kumpanen, sagte Lore sich und verspürte eine leise Hoffnung. »Mein Gott, vielleicht ist das der Herr von der Reederei, der zu uns kommen wollte!«
    Sie presste sich die Hand gegen das klopfende Herz.
    »Ach, sieh an, ein German!«, rief Edwin unten. Er musste schreien, um die Hunde zu übertönen. »Nun, Mr. German, was führt Sie hierher?«
    »Ich möchte Herrn von Retzmann sprechen!«, antwortete dieser.
    »Ich …«
    Der Rest seiner Worte ging in einem erneuten Aufheulen der Hunde unter und in einem Quieken dicht neben Lores Ohr. Nati umarmte ihre große Freundin stürmisch. »Wir sind gerettet! Das ist mein Onkel Thomas! Er ist gekommen, uns zu befreien!«
    »Du meinst Thomas Simmern, deinen Vormund?«, fragte Lore ungläubig.
    »Ja! Komm, wir müssen schreien, damit er weiß, wo wir sind! Onkel Thomas! Onkel Thomas! Hier sind wir!«
    »Er kann uns nicht hören! Dafür sind die Hunde zu laut. Oh, Gott, wenn wir doch nur hinunterlaufen könnten! Schau, dieser widerliche Edwin schlägt deinen Onkel vor die Brust! Ich glaube, er will ihn in die Kutsche zurückdrängen. O Heilige Muttergottes, hilf! Ich muss diese Kette loswerden. Hoffentlich lässt sich Herr Simmern nicht so schnell abwimmeln!«
    Lores Blick irrte durch das Zimmer und blieb an dem Stuhl haften. Den könnte sie anstelle eines Holzscheits einsetzen. »Nicht erschrecken!«, rief sie Nati zu.
    Die interessierte sich jedoch nur dafür, was unten vor sich ging. »Lore, Lore! Ich glaube, die Schweinekerle wollen Onkel Thomas von den Hunden fressen lassen!«
    Lore widerstand dem Drang, wieder ans Fenster zu laufen, sondern nahm den Stuhl, hob ihn hoch und schlug ihn gegen den Kaminaufsatz. Der Knall war gar nicht besonders laut, aber in ihren Ohren klang er wie ein Kanonenschuss. Dann hielt sie nur noch einen Teil der Lehne in der Hand.
    Nati wandte ihr den Kopf zu und nickte. »Ja, prima! Beeil dich! Onkel Thomas hat jetzt eine Pistole in der Hand. Ich glaube, er will die Hunde erschießen!«
    »Ich mach ja schon!« Lore legte die kürzeren Holzstücke weg, packte eines der Beine und steckte es in den Bettrahmen. Ein kräftiger Ruck ließ das morsche Gestell auseinanderbrechen, und sie konnte die Kette herausziehen. Da sie das Ding nicht hinter sich herschleifen wollte, stopfte sie das Ende in ihren Gürtel und wandte sich zu Nati um.
    Diese stieg bereits auf die Fensterbank und wollte nach draußen. »Komm schnell!«, rief sie. »Wir …«
    »Bist du verrückt? Hier sehen die Kerle uns doch!«, rief Lore und zerrte die Kleine wieder ins Zimmer. Dann warf sie noch einen letzten Blick auf den Vorplatz. Edwin krempelte gerade die Ärmel hoch und trieb den ungebetenen Besucher mit wiegenden Schrittenvor sich her. Was er sagte, war nicht zu verstehen, aber trotz der Pistole in seiner Hand schien Thomas Simmern nicht Herr der Lage zu sein.
    Lore bekreuzigte sich und schwor, der Muttergottes eine ganz große Kerze zu stiften, wenn Nati und sie lebend hier herauskämen. Sie hob das Kind aus Gewohnheit hoch, setzte es aber sofort wieder ab. »Los, wir laufen über den Flur auf die andere Hausseite. Ich nehme die Betttücher mit. Damit seilen wir uns ab!«
    »Hast du das schon einmal gemacht?«
    »Nein! Aber ich habe davon gelesen! Es wird schon klappen.«
    Nati war Feuer und Flamme für den Plan und folgte Lore, mit den zusammengeknüllten Leintüchern unter

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