Dezembersturm
dem Arm, vorsichtig den Flur entlang. Dabei versuchte Lore abzuschätzen, unter welchem Fenster die Kutsche stehen mochte, und wählte danach die Zimmertür. Das Fenster des Raums ging auf einen kleinen Anbau mit einem Pultdach hinaus, dessen Giebel kaum hüfthoch unter der Brüstung lag.
Lore hob Nati hoch und stellte sie auf das Dach hinaus, das sofort verdächtig knirschte.
»Vorsicht«, warnte Lore. »Bleib ganz dicht an der Mauer stehen und halt dich fest!« In dem Moment bemerkte sie, dass die Hunde aufgehört hatten zu bellen. Erschrocken lauschte sie auf hastige Schritte oder Rufe, die anzeigten, dass ihre Flucht entdeckt worden war. Doch im Haus rührte sich nichts.
Nach qualvollen Sekunden begannen die Hunde wieder zu jaulen, so heiser, als hätten sie sich verausgabt. Dafür brüllten die Männer vor dem Haus umso lauter. Thomas Simmern schien genau zu wissen, dass Nati hier gefangen gehalten wurde, und er verlangte ihre Herausgabe und die ihrer Kinderfrau. Aber seine Stimme klang eher hilflos, während Rupperts Männer immer wieder in Gelächter ausbrachen. Ihnen schien die Sache Spaß zu machen, denn sie spielten mit ihrem unverhofften Gast Katz und Maus.
Lore wünschte beinahe, Natis Vormund würde diese Banditen einfach niederschießen. Da er das aber nicht tun würde, betete sie ein Stoßgebet, während sie mit einer Hand die Kleine vor sich herschob und sich mit der anderen in dem löchrigen Putz festkrallte. Einzelne Dachziegel lösten sich unter ihren und Natis Füßen, und das Kind brach zweimal in das morsche Dach ein und hing nur noch an Lores Arm. Diese zog die Kleine wieder hoch und schlich weiter. Den Stimmen nach näherten sie sich immer mehr der Kutsche und sahen kurz darauf deren Heck hinter der Hausecke hervorragen. Die rote Lederabdeckung für das Kofferfach hing schlaff durch, so als befände sich wenig oder nichts darunter. Lore atmete noch einmal kräftig durch. »Jetzt kommt es darauf an, wer schneller bei der Kutsche ist, Rupperts Männer mit ihren Hunden – oder wir«, flüsterte sie Nati ins Ohr.
Als sie die Dachkante erreicht hatten, sahen sie, dass der Boden weiter entfernt war, als sie vermutet hatten. Zudem gab es hier auch keine Möglichkeit, die Betttücher, mit denen sie sich hatten abseilen wollen, irgendwo zu befestigen. Kurz entschlossen versuchte Lore, die Tücher aneinanderzuknoten und ein Ende um Natis Brust zu schlingen. Doch der morsche Stoff riss schon bei dieser Beanspruchung. Daher legte Lore das Zeug weg und zog Nati an sich.
»Ich packe deine Hände und lasse dich hinunter, so weit ich kann. Dann lasse ich dich los. Pass auf, dass du gut aufkommst! Wenn du dir weh tust, darfst du nicht schreien, hörst du? Du schleichst dich zur Hausecke und schaust nach, ob einer von Rupperts Banditen hersiehst. Wenn sie dir den Rücken zudrehen, läufst du zu der Kutsche und versteckst dich in der Kofferablage. Hast du mich verstanden?«
Nati sah Lore mit großen Augen an und nickte eifrig, doch Lore fühlte, dass der Körper des Kindes zitterte und gleichzeitig wie unter einem neuen Fieberschub glühte. Wahrscheinlich würde dasMädchen nicht die Kraft haben, sich auf dem glatten Brett unter der Abdeckung festzuhalten. Für einen Augenblick überlegte Lore, ob sie nicht besser ins Haus zurückkehren und die Leute mit lauten Schreien ablenken sollte, so dass Nati in die Kutsche klettern konnte. So konnte wenigstens das Kind entkommen. Dann aber dachte sie an William und schauderte.
Voller Angst, aber von dem Willen beseelt, Ruppert und dessen Schuften zu entkommen, legte Lore sich auf den Bauch und half Nati so weit hinunter, wie ihre Arme reichten. Dann ließ sie sie mit einem Stoßgebet los. Nati fiel das letzte Stück wie ein Stein hinab und blieb reglos liegen. Voller Panik schwang Lore die Beine über die Dachkante und sprang hinterher. Dabei rutschte das lose Ende der Kette aus dem Gürtel und schlug gegen ihre Beine. Noch während sie die Zähne zusammenbiss, um nicht vor Schmerz zu schreien, kam sie mit ihrer rechten Hand auf einen Stein auf und verdrehte sich das Gelenk. Mühsam kämpfte sie sich auf die Beine. Als sie stand, wurde Nati neben ihr mit einem Mal quicklebendig.
»Mir tut alles weh!«, klagte das Mädchen leise, packte aber Lores Hand und strebte humpelnd der Kutsche zu. Die Stimmen der Männer waren nun ganz nah, und Lore konnte ihre Füße auf der anderen Seite der Kutsche erkennen. Den Geräuschen nach wurde Thomas Simmern gerade von Edwin
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