Dezembersturm
worden, weil ich zufällig das einzige Aufsichtsratsmitglied des NDL war, das sich zu dem Zeitpunkt in London aufgehalten hat. Ich habe die Passagierlisten studiert, und ich kann bezeugen, dass Lore Huppach ein Passagier der ersten Kajüte war, unterer Salon, wie es sich für eine bürgerliche Dame geziemt. Abgesehen davon wollte ich Graf Retzmann auf der
Deutschland
aufsuchen, um ihn über deine Umtriebe hier in England aufzuklären. Deswegen glaube ich auch nicht, dass es sich bei seinem Tod um einen Unglücksfall gehandelt hat. Du hast deinen Großvater mit Absicht aus den Wanten gestoßen, und zwar nicht nur, um an das Erbe zu kommen.«
Rupperts Gesicht nahm eine bleigraue Färbung an. Als sein Advokat mit langer Miene auf ihn zutrat, stieß er ihn so heftig zurück, dass der Mann gegen einen Polizeioffizier prallte und diesen mitzu Boden riss. Ohne dem Gestürzten die geringste Beachtung zu schenken, packte Ruppert Thomas Simmern, hob ihn wie ein Leichtgewicht hoch und stieß ihn gegen die Kutsche.
»Mit dir Leisetreter werde ich immer noch fertig! Lauf ruhig zu Scotland Yard! Du hast keine Beweise in der Hand und bis auf den versoffenen McTh orne von der
Fair Lady
auch keinen Zeugen. Und falls du auf Hank Pycroft und Horris Blandon hoffen solltest, lass dir gesagt sein, dass beide unglücklicherweise vor ein paar Tagen einem bedauerlichen Unfall zum Opfer gefallen sind. Pass besser auf, dass dir nicht auch so etwas zustößt. London ist ein verdammt unsicheres Pflaster für betuchte Ausländer! Raubmorde sind dort an der Tagesordnung. Ich habe viele Freunde hier in England, die mir gerne den einen oder anderen Gefallen tun.«
Ruppert machte eine kurze Pause, in der er Thomas Simmern wie einen Sack in die Kutsche stopfte. Dabei zuckte ein höhnisches Lächeln um seine Lippen. »Im Grunde erweist du mir eben einen Gefallen. Es ist meinen Zwecken nämlich viel dienlicher, wenn das Aas Nathalia in deinen Händen krepiert! Dann kann ich die meinen in Unschuld waschen.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und schlenderte davon, ohne dem Chaos, das er angerichtet hatte, auch nur einen Blick zu schenken.
Der Polizeioffzier kümmerte sich nicht um Ruppert, sondern ließ seinen ganzen Ärger über die erfolglose Hausdurchsuchung und seine verschmutzte Uniform an dem Advokaten aus. Außerdem verlangte er von diesem zu erfahren, wo denn nun die diebische Hausangestellte sei.
Als Lore das hörte, drückte sie sich tiefer in die Polster der Kutsche. Onkel Thomas zwinkerte ihr zu und schüttelte den Kopf. Dann klopfte er sich mehr symbolisch den Schmutz aus dem inzwischen arg mitgenommenen Gehrock, stieg aus und schloss den Kutschenschlag hinter sich.
Der Polizeioffzier trat sofort auf ihn zu, offensichtlich froh, einen Menschen vor sich zu sehen, von dem er Aufklärung erhalten konnte.
Lore hielt die Hand hinter das Ohr, um zu hören, was der Beamte zu sagen hatte. Doch der sprach einen so unverständlichen Dialekt, dass selbst Thomas Simmern Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen.
Plötzlich wurde Lore durch zwei alte Frauen abgelenkt, die von der anderen Seite in die Kutsche stiegen und sich ohne ein Wort neben sie setzten. Die eine war eine schmierige, alte Vettel, die einen verbeulten Henkelmann in der Hand trug. Die andere ging an zwei grobgeschnitzten Stöcken und hatte das Gesicht mit einem schmutzigen Schultertuch beinahe ganz verhüllt. Als sie es abstreifte, erkannte Lore Mary, die breit grinste: »Die Bullen haben unser Haus gefilzt, als hätten wir den Kronprinzen entführt und in einem Nachttopf versteckt! Ich glaube, jetzt gibt Mama sich mit nichts weniger als mit dem Kopf dieses Schweinekerls zufrieden. Es tut mir leid, aber sie haben deinen Mantel entdeckt, und dieser Ruppert hat ihn mit einer Schere zerfetzt. Dabei sind ihm ein Haufen Kekskrümel in die Schuhe geraten!«
Lore zuckte zusammen. »Und die anderen … äh, Sachen?«
»Tja, meine liebe Laurie! Die haben sich fast noch unter den Augen der Bullen unsichtbar gemacht«, sagte Mary augenzwinkernd.
»Wie sagt unser Vikar immer? Kleidet die Armen und speiset die Hungrigen, auf dass ihr selbst immer von Gott gefüttert und mit Spinnsto? versorgt werdet! Die alte Emma hier ist die ehrlichste Bettlerin, die ich kenne, und ich habe ihr Speise gegeben. Leider ist das Zeug in dem Henkeltopf für sie nicht sehr verdaulich. Deswegen verkauft unsere Freundin es dir für fünf Pfund.«
Lore unterdrückte einen Schrei und riss der Bettlerin den
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