Dezembersturm
Mann verzweifelt und am Ende seiner Kraft war. Die Hände des Kutschers zitterten, und er sah so aus, als würde er sich am liebsten umdrehen und davonlaufen. Fridolin begriff, dass Florin eine schwere Last auf der Seele liegen musste, und er winkte dem Dienstmädchen, den Raum zu verlassen. Bevor sie die Tür schloss, rief er ihr nach: »Kannst du ein Glas Grog für Florin besorgen?« Senta schnaubte missbilligend, denn Menschen, die dem neuen Herrn auf Trettin dienten, wurden hier in diesem Haus nicht gerade gern gesehen. Sie trollte sich jedoch und kehrte kurz darauf mit einem kleinen Tablett zurück, auf dem ein dampfendes Grogglas und ein Glas mit Honiglikör standen.
»Wohl bekomm’s«, sagte sie und zog sich mit einem Gefühl des Bedauerns zurück, kein Mäuschen zu sein, welches das Gespräch der beiden Männer heimlich belauschen konnte.
»Komm, trink! Du siehst aus, als könntest du einen steifen Grog gebrauchen«, forderte Fridolin den Kutscher auf.
Dieser nahm das Glas gehorsam zur Hand, sah den jungen Mann jedoch mit einem bitteren Ausdruck an. »Das Trinken hilft mir auch nicht mehr, Herr Fridolin. In mir brennt alles! Ich kann es kaum mehr ertragen.« Dann schniefte er und brach in Tränen aus.
»Hoppla, Florin! So kenne ich dich gar nicht. Was ist denn los?« Auch wenn Fridolin es Florin übelgenommen hatte, dass der ehemalige Kutscher seines Onkels diesen Posten ohne zu zögern auch bei dem neuen Herrn auf Trettin versehen hatte, tat der Mann ihm nun leid.
»Sie wissen ja nicht, wie sehr ich mit meinem Gewissen kämpfe, Herr Fridolin. Es ist wegen dem Brand im Lehrerhaus, müssen Sie wissen.«
»Also ist Ottokar doch daran vorbeigefahren, ohne Cousine Leonore und ihre Familie zu wecken. Bei Gott, das ist fast so schlimm wie Mord!« Fridolin verzog das Gesicht, doch Florin schüttelte den Kopf.
»Herr Ottokar ist nicht nur am Lehrerhaus vorbeigefahren. Er hat es angezündet!«
Seine Worte trafen Fridolin wie ein Schlag. »Was sagst du da?«, fragte er ungläubig.
Das Gesicht des Kutschers verriet ihm jedoch, dass der Mann die Wahrheit sagte.
»Bist du dir ganz sicher?« Hinter Fridolins Stirn rasten die Gedanken. Ein Teil von ihm wollte das, was er gehört hatte, nicht glauben. Selbst Ottokar konnte nicht so ruchlos sein, einen vorsätzlichen Mord an fünf Menschen zu begehen.
»Sogar sechs!«, sagte er laut. »Er muss gedacht haben, Lore sei im Lehrerhaus, und wollte die Familie mit einem Schlag aus dem Weg räumen. Bei Gott, wie kann ein Mensch nur so verderbt sein!« Fridolin spürte, wie ihm die Wut und die Erschütterung Tränen in die Augen trieben.
Florin knetete seine Mütze und sah aus, als wünsche er sich ans Ende der Welt. Da er an jenem verhängnisvollen Abend auf dem Bock der Kutsche geblieben war, hatte er nicht genau sehen können, was sein Herr getan hatte, denn der Gutsherr war erst zur Kutsche zurückgekehrt, als eine Feuerlohe das Dach des Hauseserfasste, und hatte ihm befohlen, die Pferde zu peitschen, um so rasch wie möglich fortzukommen.
»Ich musste ihn noch in der Nacht nach Heiligenbeil bringen, damit er mit dem ersten Zug nach Königsberg fahren konnte. Bei Gott, Herr Fridolin. Sie wissen gar nicht, wie es in mir reißt. Ich hätte damals den Mund auftun und laut schreien sollen. Dann wären sie alle noch am Leben. So aber habe ich auf die Pferde eingeschlagen und bin so schnell, wie ich konnte, zum Gutshof gefahren.«
Der Kutscher rang in einer verzweifelten Geste die Hände, doch Fridolin vermochte ihn nicht zu trösten oder gar von seiner Schuld freizusprechen. Das Verbrechen, das Ottokar begangen hatte, verschlug ihm für einige Augenblicke die Sprache, und er schämte sich, mit so einem Mann verwandt zu sein. Alles in ihm drängte, die Gendarmerie aufzusuchen und seinen Vetter als Mörder anzuzeigen. Doch schon halb auf dem Weg zur Tür hielt er inne. Ottokar war als Gutsherr auf Trettin hoch angesehen und hatte einflussreiche Freunde in Justizkreisen. Keiner von denen würde auch nur einen blanken Nickel auf Florins Aussagen geben.
Niedergeschlagen legte er Florin die Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, aber wir sind beide nicht in der Lage, Ottokar anzuzeigen. Er würde alles abstreiten, und bei den Herren vor Gericht gilt sein falsches Ehrenwort nun einmal mehr als deine ehrliche Aussage.«
»Was soll ich nur machen?«, fragte der Kutscher. »Immer wenn ich durch das Dorf fahre, sehe ich das brennende Haus und höre die Leute drinnen schreien.
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