Dezembersturm
Dame behandeln, hörst du? Sie bleibt jetzt immer bei mir und sorgt dafür, dass ich ganz artig werde.«
Onkel Thomas schmunzelte und strich Nati über die heiße Stirn. »Aber ja, mein kleiner Schatz. Das wird sie ganz sicher! Schlaf jetzt. Es wird alles gut werden, das verspreche ich dir.«
»Kein Tod und keine schlimmen Unglücke mehr?«, fragte Nati noch.
»Nein, mein kleiner Engel«, antwortete Onkel Thomas. Aber da war Nati trotz des heftigen Rumpelns der Kutsche schon eingeschlafen.
Lore sah Thomas Simmern lächelnd an. So zärtlich wie er mit Nati gingen nur wenige Männer mit ihren eigenen Kindern um.Sie wollte etwas sagen, aber er schüttelte den Kopf und deutete durch das Seitenfenster nach vorne.
»Wir sind gleich da. Reden können wir später, Fräulein von Huppach!«
»Einfach nur Huppach«, antwortete Lore automatisch. Da sie gegen die Fahrtrichtung saß, musste sie sich vorbeugen und den Vorhang beiseiteschieben, um hinaussehen zu können. Vor ihnen tauchte bereits das Hotel auf, in dem Thomas Simmern logierte, und dahinter konnte man einen Teil des alten Fischereihafens erkennen. Marys zweitältester Bruder Freddy erwartete sie aufgeregt vor der Hofeinfahrt des Hotels.
»Mister Simmern! Mister Simmern! Der Schweinekerl ist wieder da! Er hat die Bullen mitgebracht, und die stellen jetzt das ganze Haus auf den Kopf und werfen die Möbel auf die Straße. Wir sind sogar selber durchsucht und dann in dieser Hundekälte vor die Tür gejagt worden. Ist das nicht eine Gemeinheit? Ach, Laurie, du bist ja auch wieder da! Hat der feine Gentleman dich befreit? Mary hat die ganze Zeit gejammert und gemeint, ihr wärt schon tot. Habt ihr Lady Püppchen wieder mitgebracht? Ach, da ist sie ja! Eingepackt wie ’ne Wurst. Na, fein!«
Onkel Thomas unterbrach seinen Redeschwall. »Schon gut, mein Junge. Es wird schon wieder alles in Ordnung kommen. Du kennst doch sicher einen guten Arzt, nicht wahr? Lauf schnell zu ihm und sage ihm, Lady Nathalia benötige ihn sehr dringend. Es geht um Leben und Tod! Er soll ins Zimmer 301 im Hotel ›Fisherman’s Rest‹ kommen. Ich fahre inzwischen zu deinen Eltern und regle diese Angelegenheit.«
Angefeuert von einem halben Shilling, rannte Freddy, als ginge es um sein Leben. Unterdessen nahm Konrad Nati wie eine kostbare Last auf den Arm und trug sie im Laufschritt zum Hoteleingang. Thomas Simmern drehte sich zu Lore um. »Willst du nicht doch ins Hotel?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich mag nicht mit dieser Kette um den Fuß herumlaufen! Können wir sie denn nicht abmachen?«
»Dazu ist jetzt keine Zeit. Entweder gehst du jetzt zu Nati aufs Zimmer, oder wir fahren weiter. Hältst du noch durch? Lass deinen Tränen ruhig freien Lauf. Weinen erleichtert das Herz. Und ich werde Ruppert vor aller Augen fragen, was ihm einfällt, eine Enkelin des Herrn von … wie war der Name …?«
»Meines Großvaters? Wolfhard von Trettin.«
»Oh! Eine Enkelin des wilden Nikas! Nun, das erklärt, warum du so beherzt gehandelt hast. Komm, mein tapferes Mädchen! Zwar können wir den Wolf nicht fangen, aber wir werden ihn wenigstens von der Beute vertreiben.«
Lore hatte zwar das Gefühl, als wirble die Kutsche um sie herum, aber sie nickte und lächelte schließlich unter Tränen. »Hoffentlich! Ich bin dabei, Herr Simmern.«
»Nenne mich ruhig Onkel Thomas! Ich habe schließlich deinen Großvater kennengelernt, als ich noch ein Bengel in kurzen Hosen war. Graf Retzmann hat noch Jahre später in trauter Herrenrunde Schwänke vom wilden Nikas erzählt.«
Lore spürte, wie sie rot wurde. Sie kannte einige der harmloseren Geschichten über ihren Großvater, doch selbst die waren kaum für Damenohren geeignet.
Währenddessen hatte sich die Kutsche wieder in Bewegung gesetzt und bog jetzt in die Straße am alten Hafen ein. Vor dem Haus der Penns waren zahllose Menschen zusammengelaufen, so dass es in der Straße kein Durchkommen mehr gab. Einige Gassenjungen und ein paar junge Männer waren sogar auf das Dach der Hafenkommandantur geklettert, um besser sehen zu können, was sich bei den Penns abspielte. Das Geschrei war ohrenbetäubend, aber Mrs. Penns Keifen übertönte alle anderen Stimmen. Sie klang so empört, als hätten die Polizisten ihr gerade angedroht, sie und die ganze Familie nackt in das Hafenbecken zu werfen.
X.
Thomas Simmern sprang aus dem Wagen und drängte sich durch die Menge. Als Ruppert ihn kommen sah, spie er aus und wandte ihm den Rücken zu. Onkel Thomas
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