Dezembersturm
voneinander! Ja?«
Mary nickte heftig, küsste Lore auf die Wange und ließ sich dann von ihrem Vater aus dem Wagen heben. Als die Kutsche anfuhr, winkte Lore ihnen zu, bis der Zaun des Hotelgartens das Haus in der Straße am alten Hafen verdeckte.
FÜNFTER TEIL
In London
I.
Fridolin verzog das Gesicht, als der Trettiner Schlitten an Doktor Mützes Haus vorbeifuhr und vor dem Bahnhof anhielt. Von seinem Fenster aus konnte er seinen Vetter Ottokar beobachten, der in einen teuren Pelzmantel gehüllt ausstieg, sich von seiner Frau verabschiedete und den Bahnhof betrat. Zwei Dienstmänner eilten sofort herbei, um seine Koffer zu tragen. Bei dem Anblick verspürte Fridolin Neid. Die letzten Male, mit denen er mit dem Zug hier in Heiligenbeil angekommen oder weggefahren war, hatte sich keiner der dienstbaren Geister sehen lassen, so dass er sein Gepäck selbst hatte schleppen müssen. Doch mit einem leeren Portemonnaie ließ sich schlecht Trinkgeld geben.
Unterdessen wendete der Kutscher das Gespann und fuhr erneut am Doktorhaus vorbei. Da Malwine auf dem Schlitten saß, war wohl das nächste Hutgeschäft ihr Ziel oder die sich französisch gebende Schneiderin, die ihren schlichten Namen Haase in ein vornehm klingendes de Lepin verwandelt hatte.
Nicht zum ersten Mal fand Fridolin, dass Fortuna ihre Güter ungerecht verteilt hatte. Ein Mann wie Ottokar durfte sich Herr auf Trettin nennen, obwohl nicht mehr für ihn sprach, als dass er der Sohn des nächstälteren Bruders war. Zum Dank hatte er den alten Herrn vom Gut vertrieben und damit auch Lore um das ihr zustehende Erbe als Nachkommin des letzten Majoratsherrn gebracht.
Er selbst … Fridolin brach den unerfreulichen Gedankengang ab und wollte vom Fenster zurücktreten, als er das Trettiner Schlittengespann zurückkommen sah. Diesmal saß nur noch der Kutscher auf dem eleganten Gefährt. Es war Florin, der ihm vor vielen Jahren den ersten Reitunterricht erteilt hatte. Das war eine schöneZeit gewesen und Florin damals noch ein fröhlicher, junger Mann. Als der Kutscher nun vor dem Gasthof anhielt und dem herbeieilenden Knecht die Zügel zuwarf, wirkte er trotz des unförmigen Schaffellmantels und der über die Ohren gezogenen Mütze wie ein Mensch, der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet.
Zu Fridolins Verwunderung trat Florin nicht in den Gasthof, sondern wandte sich, nachdem er mehrmals die Straße hoch- und hinuntergeblickt hatte, dem Doktorhaus zu. Da Ottokar und Malwine stets den Arzt aus Zinten rufen ließen, weil sie Doktor Mütze die Freundschaft zu dem vertriebenen Gutsherrn übelnahmen, musste etwas Besonderes geschehen sein. Kurz darauf ertönte die Türklingel, und dann klopfte jemand an die Tür.
»Herein!«, rief er.
Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet, und das Mädchen der Mützes steckte den Kopf in den Raum. »Eben ist ein Mann gekommen, der mit Ihnen sprechen will, Herr Fridolin!«
»Ich komme!« Fridolin sah in den kleinen Spiegel an der Wand und strich kurz über sein schmales Oberlippenbärtchen. Es war mehr eine Geste, aber sie gab ihm das Gefühl, alles getan zu haben, um gut auszusehen.
Das Hausmädchen wartete lächelnd. Auch wenn Senta nicht mehr zu den Jüngsten zählte, so war sie doch für den Charme des jungen Mannes empfänglich. »Soll ich Ihnen ein Glas Wein in das Rauchzimmer bringen, Herr Fridolin?«, fragte sie.
Fridolin schüttelte den Kopf. »Danke, das ist sehr lieb von dir. Aber zu einer so frühen Stunde trinke ich noch nichts.«
»Das ist auch richtig so«, ertönte in dem Moment die Stimme der Hausherrin. »Es tut keinem Mann gut, viel zu trinken!« Dann wandte Frau Mütze sich ihrer Dienerin zu. »Trotzdem solltest du Herrn Fridolin ein Glas Bärenfang oder Goldwasser in das Rauchzimmer stellen. Und sieh nach, ob auch genug Zigarren zur Auswahl dort liegen.«
»Das ist nicht nötig. Ich rauche nämlich nicht«, erklärte Fridolin lächelnd.
Die Hausherrin sah ihn verwundert an. »Aber alle Herren rauchen Zigarren!«
Fridolin wollte ihr nicht erklären, dass er sich die Sorten, die ihm schmecken würden, nicht leisten konnte. Den billigen Knaster aber, den Dienstboten und Handwerker rauchten, verabscheute er. Um das Thema nicht vertiefen zu müssen, brachte er die Rede wieder auf den Besucher und wurde von dem Dienstmädchen auf schnellstem Weg ins Rauchzimmer geführt.
Wenige Augenblicke später ließ sie Florin eintreten. Fridolin erschrak, denn von nahem war nicht zu übersehen, dass der
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