Dezembersturm
benutze ich nur, wenn Lore durch Ottokar in Schwierigkeiten geraten sollte.«
»Also kann der Mörder weiterleben und sich seines unrechtmäßig erworbenen Besitzes erfreuen«, antwortete Doktor Mütze bitter. Fridolin wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und empfand dieselbe Hilflosigkeit, die wohl auch seinen Onkel gequält hatte.
II.
Nach dem Gespräch mit Florin hielt Fridolin nichts mehr in Heiligenbeil. Er musste den nächsten Zug in Richtung Danzig nehmen und von dort aus nach Berlin reisen, um nicht dem Drang zu erliegen, Ottokar wie einen tollwütigen Hund zu erschießen. Zudem wollte er Doktor Mütze nicht länger auf der Tasche liegen.
Frau Mütze hatte ihm von ihrer Köchin ein großes Paket mit Lebensmitteln als Reiseproviant einpacken lassen, und als Fridolin einen Blick hineinwarf, stellte er fest, dass es für mehr als eine Woche reichen würde. Obwohl er sein letztes Geld für die Fahrt nach Ostpreußen geopfert hatte, fühlte er sich beschämt und war schließlich froh, als der Zug einfuhr und er nach einem letzten Zuwinken einsteigen konnte.
Die Zugfahrt versprach ebenso lang wie langweilig zu werden. Die Leute, die bei diesem Wetter mit der Bahn reisten, taten es entweder voller Vorfreude auf das kommende Weihnachtsfest, oder sie zogen Gesichter, als wären sie eben ans Ende der Welt versetzt worden. Keiner von ihnen eignete sich als Gesprächspartner, und Fridolin sagte sich, dass er darüber froh sein solle, weil er sich nun in Ruhe mit den Ereignissen auseinandersetzen konnte.
Er konnte nicht begreifen, was Ottokar dazu getrieben hatte, die eigene Cousine und deren Familie zu ermorden. Hatte er verhindern wollen, dass Leonore Huppach das ihr zustehende Erbe erhielt, oder war es aus Rache geschehen, weil sie ihn vor fast zwanzig Jahren abgewiesen und statt seiner einen einfachen Beamten geheiratet hatte?
Damals war Fridolin gerade auf der Welt gewesen und kannte diese Ereignisse deshalb nur vom Hörensagen. Seine Mutter hatte sich sehr ereifert. Wolfhard von Trettin sei ein unberechenbarer Freigeist, hatte sie stets behauptet und ihn davor gewarnt, in die Fußstapfen seines Onkels zu treten. Ihre Abneigung gegen den alten Gutsherrn hatte sie jedoch nicht daran gehindert, das Geld anzunehmen, das dieser der verwitweten Frau seines jüngsten Bruders hatte zukommen lassen, und ihren Sohn in den Ferien nach Ostpreußen zu schicken. Nun war auch sie tot und Ottokar nach Recht und Gesetz sein Vormund, bis er einundzwanzig wurde. Doch zu seinem Glück ließ sein Vetter ihn in Ruhe.
»Ich habe ihn, als er noch in Berlin gelebt hat, wohl einmal zu oft angepumpt«, sagte Fridolin mit einem spöttischen Auflachen zu sich selbst.
Statt Geld oder tatkräftiger Hilfe hatte er von Ottokar stets nur lauwarme Ratschläge bekommen. Dabei hätte es seinen Vetter nicht viel gekostet, ihm eine Stelle als Leutnant in einem Linienregiment zu besorgen. Die Familientradition derer von Trettin hätte zwar verlangt, dass er wie frühere, nicht erbberechtigte Söhne zuden Gardekürassieren ging oder Pfarrer wurde. Für die Militärschule allerdings hatten ihm das Geld und das standesgemäße Auftreten gefehlt, und für den geistlichen Stand fühlte er sich nicht geschaffen. Zudem hätte er auch da jemanden gebraucht, der ihm eine einträgliche Pfarrstelle hätte vermitteln können.
Mit Bitterkeit dachte Fridolin daran, dass er sein Geld damit verdiente, reiche Müßiggänger aus der Provinz in das Berliner Nachtleben einzuführen und sich dafür aushalten zu lassen. Im Grunde war er nicht mehr als ein Schnorrer, aber das war der Sitte nach eher mit seiner Standesehre zu vereinbaren als ehrliche, aber lohnabhängige Arbeit. Ein Handwerk auszuüben oder eine Stelle bei einem bürgerlichen Industriellen anzunehmen war für einen Herrn von Stand nicht ohne gesellschaftliche Ächtung möglich. Nicht einmal die einfachen Bürger würden ihn dann noch akzeptieren.
Um nicht in Trübsinn und Selbstverachtung zu verfallen, begann Fridolin seine Mitreisenden zu beobachten. Bei ihnen handelte es sich ausnahmslos um Bürgerliche, die sich eine Fahrkarte zweiter Klasse leisten konnten. Die meisten fuhren lediglich einige Stationen weit. Nur eine dickliche Matrone mit zwei halbwüchsigen Kindern war schon vor ihm im Abteil gewesen und schien sich, der Menge der Butterbrote in ihrem Korb nach zu urteilen, auf eine lange Reise vorbereitet zu haben. Ein Mann, dem man trotz seines guten Anzugs den emporgekommenen
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