Dezembersturm
Kaufmann ansah, stieg in Danzig zu und hatte seinen Worten zufolge ebenfalls Berlin zum Ziel.
Weder der Händler noch die Frau suchten Kontakt. Die Matrone hatte genug damit zu tun, ihren Nachwuchs zu bändigen, dem es zusehends langweiliger wurde, und der Mann zog eine Zeitung heraus und begann die Titelseite zu lesen. Zuerst achtete Fridolin nicht auf ihn, doch als der andere erstaunte und auch verärgerte Ausrufe von sich gab, sprach er ihn an.
»Können Sie mir sagen, was los ist? Hat Bismarck wieder einmal einen Krieg angezettelt?«
Der Händler starrte ihn indigniert an. Für ihn war Otto von Bismarck ein Held, den zu schmähen er selbst einem Adelsbürschchen wie seinem Gegenüber nicht gestatten mochte. Die Nachricht jedoch, die er eben gelesen hatte, erregte ihn weitaus mehr, und so machte er seinem Ärger Luft. »Sehen Sie sich diese Schweinerei an! Einer unserer Dampfer ist in der Themsemündung untergegangen. Dabei handelt es sich ausgerechnet um die
Deutschland!
Es soll viele Tote gegeben haben!«
»Wie bitte? Die
Deutschland
ist gesunken?« Fridolin fuhr hoch und riss dem Mann die Zeitung aus der Hand. Tatsächlich stand die Nachricht in großen Lettern an oberster Stelle.
Der Fremde schimpfte, weil er seine Zeitung wiederhaben wollte, doch Fridolin achtete nicht auf ihn. Laut dem Fuhrunternehmer Wagner hatte Lore sich auf dem Schnelldampfer
Deutschland
eingeschifft, und der Gedanke, seine Verwandte könne ertrunken oder hilflos in England gestrandet sein, war mehr, als er glaubte ertragen zu können. Rasch las er die Meldung durch, die der Zeitungskorrespondent aus London gekabelt hatte. Doch mehr als die Information, dass das Schiff bei Kentish Knock im Sturm aufgelaufen war und es dabei Tote gegeben hatte, konnte er dem Text nicht entnehmen.
Mit zitternden Händen reichte er die Zeitung zurück und setzte sich wieder hin. Seinem Gegenüber entging Fridolins Erregung nicht. »War vielleicht ein Bekannter von Ihnen an Bord?«
Jetzt blickte auch die Matrone auf, und ihre beiden Kinder verstummten für einen Augenblick.
Fridolin war jedoch nicht danach, die Neugier anderer Leute zu befriedigen, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass jemand, den ich kenne, auf diesem Schiff war.«
Die Erfahrung vieler Kartenspielrunden half ihm, eine unbewegteMiene aufzusetzen, während sich in seinem Kopf die Gedanken überschlugen. Lore darf nicht tot sein! Gott konnte das doch nicht zugelassen haben. Sie war so ein liebes Ding. Welches andere Mädchen hätte sich Tag und Nacht für den kranken Großvater aufgeopfert?
»O Herr im Himmel, lass sie noch leben!«, betete er lautlos. »Sie ist doch so jung. Willst du Ottokar auch noch für all das belohnen, was er getan hat? Ohne ihn und Malwine hätte mein Onkel niemals den Entschluss gefasst, Lore nach Amerika zu schicken.«
In diesem Moment begriff er, dass Lore selbst dann, wenn sie das Unglück überlebt hatte, nicht in Sicherheit sein würde. Gewiss hatte sie nichts außer sich selbst und dem, was sie am Leib trug, retten können. Also würde sie sich in England als Dienstbotin verdingen müssen. Und selbst wenn sie nach Amerika weiterreisen konnte, würde es ihr schwerfallen, dort Fuß zu fassen. So wie er seinen Onkel kannte, hatte dieser ihr das Geld, das sie für einen Neuanfang brauchte, sicher nicht in die Hand gedrückt, sondern es irgendwo in ihren Sachen versteckt. Somit lag es nun samt der
Deutschland
auf dem Meeresgrund.
Außerdem durfte er Ottokar nicht vergessen. Wenn der Kerl erfuhr, dass Lore sich derzeit in England aufhielt, würde er zweifelsohne hinreisen und seinen Anspruch als Lores Vormund erheben, und sei es nur, um seine Macht über sie zu beweisen.
Plötzlich wusste Fridolin, was er zu tun hatte. Zwar besaß er nicht einmal genug Geld für eine Fahrkarte von Berlin nach Potsdam, dennoch würde er nichts unversucht lassen, um nach England zu gelangen. Notfalls musste Hede ihm helfen. Der Gedanke, eine Puffmutter anpumpen zu müssen, hatte etwas Ehrenrühriges an sich, doch um Lores willen war er auch dazu bereit. Gleichzeitig fragte er sich, was er mit dem Mädchen anfangen sollte, wenn er es lebend in England antraf.
Die einzige Chance, die ihnen beiden blieb, war, tatsächlich nachAmerika auszuwandern und dort ein neues Leben zu beginnen. Unter den Umständen würden sie heiraten müssen, sobald sie alt genug dazu waren. Er selbst wurde in zwei Monaten volljährig, und bis zu Lores sechzehntem Geburtstag im
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