Dezembersturm
gekommen, hat aber trotz seiner Bewusstlosigkeit ein paar Worte ausgestoßen. Aber …«
»Sag es!«, drängte der Arzt.
»Florin nannte den Namen des neuen Gutsherrn auf Trettin und schrie: Nein, nicht!«
Der Arzt sah Miene an, dass es ihr nicht leichtgefallen war, sich ihm zu offenbaren, denn sie fürchtete wohl, der Lüge geziehen und aus dem Haus geworfen zu werden. Anders als die alte Frau wusste er jedoch mehr über jenen Abend, an dem Lores Familie den Feuertod gestorben war. Florin war damals zum Zeugen von Otto kar von Trettins Schurkenstück geworden und hatte dieses Wissen immer weniger ertragen können. Zwar waren die Kugeln,die den Kutscher getroffen hatten, von einer Sorte, wie auch Wilddiebe sie verwendeten. Doch die schnelle Abfolge der Schüsse, von der Miene ihm nun berichtete, deutete eher auf eine moderne Waffe als auf eine schlichte Flinte hin. Der Arzt behielt seine Überlegungen jedoch für sich und schärfte Miene und dann auch Kord ein, nichts von Florin und seinen Verletzungen herumzuerzählen.
»Es ist besser für ihn und für euch. Wer auch immer dahintersteckt, könnte versuchen, seine Tat zu vollenden, sobald er erfährt, dass der Mann noch lebt. Sobald er transportfähig ist, werde ich ihn zu mir in die Stadt holen. Aber damit Gott befohlen. Ich muss jetzt weiter, sonst fragen meine Patienten noch, ob ich sie vergessen habe.«
Nach diesen Worten trank Doktor Mütze seinen Zichorienbohnenkaffee aus und zog den Mantel an. Kord eilte nach draußen, um den Schlitten einzuspannen. Als der Arzt schließlich losgefahren war, kehrte der alte Mann ins Haus zurück und sah Miene nachdenklich an.
»Da steckt mehr dahinter, als wir zwei ahnen, altes Mädchen, viel mehr!«
SECHSTER TEIL
Ruppert
I.
Als Thomas Simmern an diesem Abend in die Hotelsuite zurückkehrte, wirkte er angespannt und erschöpft. Sofort rief Lore nach einem Pagen, um Kaffee zu bestellen. Nati war für dieses Getränk noch zu jung, und auch sie selbst, Mary und Prudence mieden es. Doch Onkel Thomas trank gerne eine oder zwei Tassen, und sie hoffte, dass der Kaffee seinen Ärger lindern würde.
Thomas Simmern reichte Konrad Mantel und Hut, atmete dann einmal kurz durch und sah schließlich Mary und Nati an. »Wärt ihr so lieb, mich einen Augenblick mit Lore allein zu lassen?«
Während Mary sofort nach ihren Krücken griff, zog Nati eine Schnute. »Lore hat keine Geheimnisse vor mir, ebenso wenig wie ich vor ihr.«
»Bitte, Nati!« Obwohl Thomas Simmern leise sprach, lag genug Nachdruck in seiner Stimme, um die Kleine zum Gehorsam zu bringen. Zwar zeigte Nati ihm deutlich, dass sie gekränkt war, aber sie verließ an Prudence’ Hand das Zimmer.
Konrad blieb noch einen Augenblick, um seinem Herrn eine Tasse Kaffee einzugießen, und wollte dann ebenfalls gehen.
»Schenk Lore auch eine Tasse ein«, forderte Thomas Simmern ihn auf, und darüber wunderte sein Diener sich ebenso wie die Empfängerin des Getränks.
»Aber ich trinke keinen Kaffee«, antwortete sie.
»Ich glaube, du bist alt genug dafür.« Onkel Thomas’ Worte ließen Lore ihren Widerstand aufgeben. Wie es aussah, hielt er sie endlich für erwachsen. Sie nickte erfreut, setzte sich dann zu ihm an den Tisch und goss sehr viel Milch in ihre Tasse. So schwarz, wie Onkel Thomas ihn verlangte, mochte sie den Kaffee nicht.
Thomas Simmern trank und schien dabei zu überlegen, wie eranfangen sollte. Schließlich stellte er die Tasse ab und blickte Lore besorgt an. »Seit ein paar Tagen fragt ein Mann im Kontor des Norddeutschen Lloyd nach dir und lässt sich auch durch ausweichende Antworten nicht abwimmeln. Zuerst habe ich gedacht, es wäre einer von Rupperts Handlangern, doch heute konnte ich ihn selbst beobachten und bin mir nicht mehr so sicher. Es ist übrigens ein Deutscher, der behauptet, mit dir verwandt zu sein.«
»Ein Verwandter?« Lore schüttelte kurz den Kopf. »Ich habe kaum Verwandtschaft, und die wenigen, die ich kenne, würden wohl kaum im Winter nach England reisen.«
»Er behauptet, sein Name sei Trettin!«, setzte Onkel Thomas seinen Bericht fort.
»Trettin?« Es klang wie ein Aufschrei. Das kann nur Ottokar sein, schoss es durch Lores Gehirn. Wie es aussah, war er immer noch hinter ihr her, um ihr das Geld des Großvaters abzunehmen, sie nach Ostpreußen zurückzuschleppen und sie zu zwingen, als Dienstmagd auf dem Gut zu arbeiten.
Thomas Simmern bemerkte ihr Erschrecken und fasste nach ihrer Hand. »Keine Angst, hier bist du in
Weitere Kostenlose Bücher