Dezembersturm
deutlich sagen, was sie von ihm hält, und das würde ihrer Verwandtschaft wohl ganz und gar nicht gefallen, nicht wahr?«
»Ihre Großtante Ermingarde würde einen Anfall bekommen!«, antwortete Onkel Thomas mit einer gespielt säuerlichen Miene.
»Du wirst die Dame schon bald kennenlernen und dir selbst ein Bild von ihr machen können. Doch nun zu etwas anderem. Da meine Mission in London vorüber ist, können wir morgen aufbrechen. Welche Pläne haben Sie, Herr von Trettin?«
»Jetzt, wo ich weiß, dass Lore in Sicherheit ist und es ihr gutgeht, hält mich nichts mehr in England«, antwortete Fridolin.
»Haben Sie bereits eine Überfahrt gebucht, oder wäre es Ihnen möglich, uns zu begleiten?«, fragte Thomas Simmern weiter.
»Also, ich habe bis jetzt keinerlei Vorbereitungen getroffen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne mit Ihnen kommen.«
»Ich würde mich freuen!« Onkel Thomas schenkte dem enttäuschten Gesicht, das Nati zog, keine Beachtung und reichte Fridolin die Hand. »Sie könnten mir übrigens einen Gefallen tun. Lore hat Ihnen sicher von Natis Vetter Ruppert erzählt. Der Mann ist zwar wie vom Erdboden verschluckt, dennoch will ich nichts riskieren. Daher möchte ich Sie bitten, während der Reise einen gewissen Abstand zu uns zu wahren und dabei die Augen offen zu halten.«
»Das mache ich sehr gerne!«
»Ich danke Ihnen. Hoffen wir auf eine glückliche Heimreise nach Bremen.« Thomas Simmern atmete auf, denn mit einem heimlichen Verbündeten auf seiner Seite fühlte er sich Ruppert eher gewachsen.
Fridolin verabschiedete sich nun und kehrte in sein weitaus weniger feudales Hotel zurück. Obwohl er die Gefahr, die Nati, Lore und den anderen durch Ruppert drohen mochte, nicht ganz ernst nahm, zerlegte und reinigte er seine Taschenpistole und lud sieneu. Als er etwas später im Bett lag, überkam ihn plötzlich eine seltsame Enttäuschung.
Er war in dem Glauben nach England gefahren, er käme als Retter seiner gestrandeten Nichte, die sich freuen würde, ihn zu sehen, und die glücklich wäre, in seinem Schutz nach Amerika zu reisen, weit weg von Ottokar und seiner raffgierigen Malwine. Nun fragte er sich, ob es gut war, wenn Lore wieder nach Deutschland zurückkehrte. Bremen war nicht Ostpreußen. Anders als etwa in Berlin würde man einen ostpreußischen Junker nicht mit aller Kraft bei der Suche nach einem Mädchen unterstützen. Aber wenn sein Vetter dennoch erschien und Lore zurückschleppen wollte, konnte er nur hoffen, dass es Thomas Simmern gelang, sich gegen den adeligen Gutsherrn durchzusetzen. Er selbst hatte aus mehreren Gründen keine Chance gegen Ottokar.
IV.
Kaum hatten sie London hinter sich gelassen, geriet die kleine Reisegesellschaft in einen Wolkenbruch, in dem man die Hand kaum vor Augen sehen konnte. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war es im Innern der Kutsche bald genauso nass wie draußen. Es war die schlimmste Fahrt, die selbst der reisegewohnte Mr. Simmern je erlebt hatte. So trostlos, wie die Reise verlaufen war, so trist begrüßte sie die Stadt Southampton. Die spärlich vorhandene Straßenbeleuchtung war wohl nur für die schwärzeste Nacht bestimmt, oder sie hatte vor dem Unwetter kapituliert, denn es brannte keine einzige Laterne. Auch erwies sich die Suche nach dem Hotel als schwierig. Der Kutscher musste zuletzt einen der Eckensteher zusätzlich zu einer Halfpennymünze noch mit dreiFlaschen Ale bestechen, damit dieser seinen trockenen Platz unter einer nicht eingezogenen Markise aufgab und ihnen als Führer diente.
Als das Gebäude vor ihnen auftauchte, erschien es Lore wie zu Stein gewordener Nebel, der sich kaum von dem ebenso grauen Hintergrund abhob. Auch das Innere des verstaubt wirkenden Gebäudes war farblos und abweisend. Kein warmer, anheimelnd prasselnder Kamin begrüßte die Reisenden, sondern eine lauwarme Dampfheizung, die kaum gegen die Kälte und die Nässe ankam. Auch wirkte das Personal in seinen strengen Livreen wie eine Ansammlung von Gespenstern.
Lore gewann den Eindruck, das Hotel und die Stadt darum herum seien in einer von Feuchtigkeit getränkten Melancholie versunken, und sie fragte sich, wie es Fridolin bei diesen Verhältnissen gelingen sollte, ihnen zu folgen. Im Gegensatz zu ihnen hatte er nicht auf eine Mietkutsche zurückgreifen können, sondern musste die Eisenbahn nehmen, und sie bezweifelte, dass die bei so schlechten Wetterverhältnissen verkehren konnte.
Allen schlugen die Kälte und der Dauerregen aufs
Weitere Kostenlose Bücher