Dezembersturm
Gemüt. Nati wachte nachts schreiend aus Alpträumen auf, und tagsüber jammerte sie in einem fort. Durch nichts ließ sie sich aufheitern, obwohl sich alle die größte Mühe gaben, sie zu unterhalten. Auch Lore zog sich von Zeit zu Zeit zurück, um unbeobachtet ihren Tränen freien Lauf zu lassen, doch am schlimmsten litt Mary unter der trüben Stimmung.
Sie hatte sich schon den ganzen Vormittag mit Konrad gezankt, obwohl dieser alles tat, um es ihr bequem zu machen. Auch als sie nun aufstand und mit Hilfe ihrer Krücken in Richtung des Bade-zimmers gehen wollte, war er sofort bei ihr, um ihr zu helfen.
Mit einem wütenden Aufschrei stieß sie ihn zurück. »Auf die Toilette werde ich wohl noch allein gehen dürfen!« Danach humpelte sie an dem konsternierten Diener vorbei, stolperte und fiel hin.
Konrad schluckte den bissigen Ausspruch hinunter, der ihm über die Lippen wollte, und wollte Mary aufhelfen.
»Lass mich!«, kreischte sie. »Ich weiß selbst, was für ein elender Krüppel ich bin. Das musst du mir nicht auch noch mit jeder Geste und jedem Blick sagen.«
»Aber ich habe doch gar nichts getan!« Jetzt platzte auch Konrad der Kragen, und er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihr stehen.
Mary kroch auf allen vieren zum Tisch und zog sich an einem von dessen Beinen hoch. Ihr verzerrtes Gesicht und die flackernden Augen warnten jeden, ihr zu nahe zu kommen.
»Bitte, Mary, beruhige dich doch«, bat Lore sie. Die junge Engländerin war ihr in den letzten Wochen zu der Freundin geworden, die sie sich immer gewünscht, aber nie gehabt hatte. Doch das schien für Mary nicht mehr zu zählen. Kaum stand sie wieder auf den Beinen, humpelte sie weiter und verschwand im Badezimmer. Kurz darauf hörten die anderen das Geräusch der Wasserspülung.
Lore hoffte, die paar Minuten würden reichen, Mary zur Vernunft kommen zu lassen. Doch als ihre Freundin aus dem Badezimmer zurückkehrte, hatte sich der verbissene Ausdruck ihres Gesichts noch verstärkt. Ohne die anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, ging sie auf Thomas Simmern zu und blieb vor ihm stehen.
»Sir, wenn Sie so gut sein würden, meine Schwester und mich nach Hause reisen zu lassen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich kann mit einem solchen Menschen wie Ihrem Diener nicht mehr unter einem Dach leben!«
Bei dieser Forderung verschlug es Lore die Sprache. Noch während sie verzweifelt nach Worten suchte, sah sie Onkel Thomas’ bittende Geste, still zu sein. »Ich werde dem Kutscher Bescheid geben, dass er die Pferde anspannen soll. Er wird euch nach Harwich bringen!«
»Müssen wir wirklich weg?«, fragte Prudence, der es überhaupt nicht passte, aus dem angenehmen Dienst als Natis Pflegerin entlassen zu werden. Daheim in Harwich würde sie wieder fester mit anpacken müssen, und mit dem Luxus des Hotellebens wäre es auch vorbei.
Mary ließ sich auf keine Diskussion ein, sondern bedankte sich bei Thomas Simmern und bat ihn um Verzeihung, weil sie ihm so viele Umstände bereitete.
»Aber es ist doch selbstverständlich, dass ich dich und deine Schwester nach Hause bringen lasse. Ihr habt in den letzten Wochen gute Arbeit geleistet. Dafür danke ich euch. Ihr habt euch ein hübsches Extrageld über euren Lohn hinaus verdient. Außerdem werde ich euch beiden ein gutes Zeugnis schreiben. Es mag euch auf eurem weiteren Lebensweg helfen.«
Trotz ihrer Krücken knickste Mary. »Danke, Sir! Sie sind so lieb zu uns. Dabei habe ich das gar nicht verdient.« Da sie erneut in Tränen ausbrach, machte Onkel Thomas, dass er in sein Zimmer kam.
Unterdessen kam Nati auf Mary zu. »Du bist gemein! Ich habe gedacht, du würdest mit uns nach Deutschland kommen. Aber Lore und ich bedeuten dir nichts.«
»Das stimmt nicht«, sagte Mary schluchzend. »Es ist nur …«
Sie brach ab, doch der Blick, mit dem sie Konrad bedachte, sagte Lore genug. Ihre Freundin hatte sich in den Diener verliebt, glaubte aber wegen ihrer Behinderung, nicht die Frau für ihn sein zu können, die er ihrer Ansicht nach erwartete. Es tat Lore leid, dass alles so enden musste, zumal auch Konrad aussah, als überkomme ihn das heulende Elend. Doch sie verstand auch Marys Angst, in ein fremdes Land zu reisen und dort an einen Mann gefesselt zu sein, der schnell bereute, sie geheiratet zu haben. Zwar glaubte sie Konrad gut genug einschätzen zu können, um anzunehmen, dass er Mary auf Händen tragen würde. Doch das hatte er auch hiergetan und sie gerade damit in dem
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