Dezembersturm
davon, was gut und was richtig ist.«
»Dann solltest du dafür sorgen, dass sie einige ihrer Vorstellungen revidiert«, gab Thomas Simmern zurück.
»Ich habe dich gehört, Onkel Thomas!«, sagte Nati in dem Augenblick hinter seinem Sessel. Wie so oft war es ihr gelungen, Weates zu entwischen und sich in den Salon zu schleichen. Aber nun war sie wenigstens ordentlich angezogen.
Lore hob sie hoch, stellte sie auf die Mansardentreppe und gab ihr einen leichten Klaps. »Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand! Hopp, wir müssen in unser Zimmer und einen Brief an die Polizei schreiben!«
»Weiß schon! Ruppert verpfeifen!«, grinste Nati. »Bin schon dabei.«
»Was bin ich froh, wenn wir endlich zu Hause sind und Nathalia wieder in geordnete Verhältnisse kommt!«, stöhnte Thomas Simmern.»Ich werde ein paar besonders strenge Hauslehrerinnen für sie engagieren.«
Doch die beiden hörten ihn schon nicht mehr.
VIII.
Nati und Lore waren sich aus verschiedenen Gründen einig, die Rückreise auf den Nimmerleinstag zu wünschen. Doch die Zeit verstrich trotz der regnerisch-grauen Langeweile viel zu schnell, und der nächste Tag rückte unaufhaltsam näher. Bevor sie abreisen konnten, wurden beide noch einmal von der Polizei wegen ihrer Entführung durch Ruppert und über alles befragt, was sie dort gehört und gesehen hatten. Man griff auch Graf Retzmanns Tod noch einmal auf. Der freundliche Inspektor, der sich mit Lore und Nati unterhielt, kam ebenfalls zu der Überzeugung, dass hier ein Mord geschehen war, und trug dies in die Akten ein. Allerdings verscherzte er sich Natis Freundschaft, weil er ihr nicht fest versprechen konnte, dass Ruppert als Strafe für den Tod ihres Großvaters gevierteilt oder wenigstens geköpft würde.
Am Vormittag des sechzehnten Februars riss ein steifer Wind die Wolkendecke auf, und die Sonne tauchte das kahle Land in hellen Glanz. Die erste Frühlingssonne vertreibt die Grillen und Sorgen des Winters, hatte Lores Mutter früher gerne gesagt. Lore hingegen fühlte sich von ihren Sorgen beinahe erdrückt. Sie wusste nicht, ob sie mehr Angst vor dem Schiff hatte, das sie am nächsten Tag betreten musste, oder vor dem Teufel Ruppert, der jede Nacht durch ihre Träume geisterte und sie mit sich in eine wirbelnde, schwarze Tiefe reißen wollte. Mit zusammengebissenen Zähnen packte sie ihre und Natis Sachen, die durch die vielen Geschenkeund Käufe drei große ÜberseeKoffer füllten. Diese sollten mit dem NDL-Dampfer
Feldmarschall Moltke
nach Bremerhaven reisen, genau wie der größte Teil von Onkel Thomas’ Gepäck. Für die eigentliche Reise gab es für jeden nur einen
carpetbag
, eine Reisetasche aus Teppichgewebe, die man gut im Innern der Kutsche verstauen konnte. Nur Onkel Thomas besaß zusätzlich einen kleinen, mit einem sicheren Schloss versehenen AktenKoffer aus feinem, rotem Leder, der seine wichtigsten Unterlagen enthielt, darunter auch das Testament und die letzten Briefe des Grafen Retzmann.
In Lores Augen war dieser Koffer so verräterisch, dass sie das Ding in einem kleinen, schon recht abgeschabten
carpetbag
versteckte. Trotzdem war ihr, als würde das rote Leder noch durch den Teppichstoff seiner Umhüllung leuchten und Rupperts Spitzeln signalisieren, dass hier etwas Besonderes vorging.
Bis zuletzt hoffte sie auf eine Nachricht der Polizei, die von Rupperts Verhaftung berichtete. Doch es geschah nichts dergleichen. Ihre Phantasie gaukelte ihr vor, sie würde seine schnarrende Stimme selbst hier im Hotel hören. Doch jedes Mal, wenn sie den Mut aufbrachte, nachzusehen, war der Sprecher nur ein harmloser Gast. Das alte, ständig knackende und knarzende Hotel verzerrte jeden Ton, und so war sie schließlich doch froh, das Gebäude verlassen zu können.
Nati erging es ähnlich. Sie hing Lore buchstäblich am Rockzipfel und war so brav, dass man glauben mochte, eine gute Fee hätte die kleine Teufelin in einen sanften Engel verwandelt. Kurz vor dem Einsteigen in die Kutsche verwischte sich der Eindruck aber wieder.
Nati zog Lores Ohr zu sich herunter. »Du, Lore«, flüsterte sie so laut, dass es jeder der Umstehenden hören konnte. »Ich glaube, Onkel Thomas hat auch Angst! Er sieht so aus, als hätte er Pipi in die Hose gemacht!«
Thomas Simmern, der Konrad gerade seine beiden Reisetaschen reichte, drehte sich konsterniert um und versuchte, die kleine Nervensäge mit seinen Blicken zu durchbohren. Hinter ihm wackelte die Kutsche, als hätten Konrad und
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