Dezembersturm
der Kutscher einen Lachkrampf. Lore spürte, wie sie blutrot wurde, aber auch sie konnte das Lachen nicht zurückhalten.
Schließlich musste auch Onkel Thomas grinsen. »Kutschfahrten scheinen etwas Erheiterndes an sich zu haben!«, spottete er, hob Nati hoch und schob sie durch den Wagenschlag. Nur Lore sah, dass er ihr dabei eine kleine Kopfnuss gab, die das Kind mit einem lautstarken »Aua!« quittierte.
Doch der kleine Zwischenfall hatte die Anspannung vertrieben. Konrad riss ein paar gutmütige Witze, die sein Herr mit kurzweiligen Anekdoten ergänzte, und so drang immer wieder Kichern und Gelächter aus der Kutsche. Die gute Laune hielt sogar an, als sie spätabends den verräucherten und nicht besonders sauberen Warteraum des Schiffsmaklers betraten, der die Frachtschiffe mehrerer kleiner Reedereien betreute. Hier war nichts von dem gediegenen Luxus des NDL zu spüren. Es gab keine Erfrischungen, und die umlaufende Bank aus einfachen Holzrippen war denkbar unbequem. Onkel Thomas bereute sofort, die Kutsche wieder nach Southampton zurückgeschickt zu haben. Deren Wagenkasten war zwar eng gewesen, aber gut gepolstert, so dass Lore und Nati bequem darin hätten schlafen können. Doch die beiden wussten sich zu helfen. Lore bettete sich mit ihrem neuen Seiden-Lamm-Mantel auf die Bank und legte den Kopf auf eine Reisetasche. Dann zog sie Nati an sich und hüllte sie mit in das weiche Fell. Nach kurzer Zeit waren beide eingeschlafen und wachten erst auf, als am Morgen die ersten Frachtwagen über das Kopfsteinpflaster rollten.
»Ich muss Pipi machen«, erklärte Nati. Lore stand auf und nahm sie bei der Hand. Auf einen Wink von Onkel Thomas folgte Konradihnen und blieb in der Nähe der Toiletten stehen, bis Lore und ihr Schützling zurückkehrten.
Auf dem Weg zur Bank erinnerte Lore sich an Fridolin und blickte sich um, aber er war nirgendwo zu sehen. Konrad stieß ein mahnendes Hüsteln aus, um sie davon abzuhalten, zu neugierig zu erscheinen, dabei hielt auch er nach Fridolin Ausschau, wenn auch weniger auffällig.
Fast schien es, als wäre Lores Onkel ihnen auf dem Weg von Southampton nach Dover verlorengegangen, doch nach einer Weile betrat ein in einen lächerlichen gelben Mantel gehüllter junger Mann die Halle und setzte sich ans andere Ende der Bankreihe. Seine Miene wirkte gelangweilt, und er gab auch kein Zeichen des Erkennens von sich, als sein Blick über die Gruppe mit Thomas Simmern, Lore und Nati glitt.
Lore hingegen musste an sich halten, um sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Gleichzeitig begriff sie, dass Fridolin diesen auffälligen Mantel gewählt hatte, damit sie ihn an Bord der
Strathclyde
im Auge behalten konnten.
Vom Wartesaal aus konnte man das Schiff in voller Größe betrachten. Es war sicher um ein Drittel kleiner als die
Deutschland
, hatte aber wie diese zwei hohe Masten. Damit hörte die Ähnlichkeit mit dem gestrandeten Ozeandampfer jedoch auf. Das Frachtschiff war rostig und ungepflegt, und sein Deck war voll von Kisten und Ballen, die mit großen Planen abgedeckt waren, und immer noch wurden große und kleine Frachtstücke an den quietschenden Ladekränen hochgezogen und entweder an Deck verstaut oder durch eine große Luke auf dem VorSchiff in den Bauch des Schiffes hinabgelassen. Der Schornstein rauchte jedoch schon so kräftig, dass Lore annahm, die
Strathclyde
müsste jeden Moment ablegen.
Onkel Thomas lachte über ihre diesbezügliche Bemerkung. »Meine liebe Lore, über Schiffe musst du noch einiges lernen. Die Feuerungenunter den Maschinen aller Dampfer müssen mindestens sechsunddreißig Stunden vor der Abfahrt angeheizt werden, sonst ist der Dampfdruck nicht hoch genug. Wie du siehst, wird gerade die hintere Gangway herabgelassen, damit der Teil der Mannschaft, der in Dover übernachtet hat, wieder an Bord gehen kann. Wir selbst werden die
Strathclyde
frühestens in ein bis zwei Stunden betreten dürfen.«
»Bis dahin bin ich verhungert und verdurstet«, antwortete Nati an Lores Stelle.
Konrad rieb sich lachend die Hände. »Das werde ich zu verhindern wissen, kleine Lady! Hörst du die Ausrufer da draußen? Das sind fliegende Händler mit Bauchläden und Handkarren, die hier im Hafengebiet leckere Sachen für hungrige Mäuler feilbieten. Bei denen besorge ich jetzt ein opulentes Frühstück für uns alle! Das habe ich als Matrose auf Landgang morgens vor der Rückkehr an Bord auch immer so gemacht, wenn ich nach einer langen Nacht noch einen Rest
Weitere Kostenlose Bücher