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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Kleid noch weiter hoch, auch wenn sie das Gefühl hatte, ihr Körper würde dadurch gedrillt wie ein Gummiband. Ruppert erwischte nur den Schaft des rechten Stiefels und riss auch die restlichen Knöpfe auf. Im gleichen Moment stürzte er wie ein Stein in die Tiefe.
    Lore vernahm noch seinen Schrei, dann versank er in dem wirbelnden Strom des Wassers, das in die
Strathclyde
eindrang.
    Von Grauen geschüttelt, wandte Lore den Blick ab. Sie hörte Fridolin brüllen, ohne zunächst zu begreifen, was er von ihr wollte. Erst als er das wild tanzende Ende des Seiles einfing und sie auf die Treppe zuzog, kehrte wieder Leben in sie zurück. Sie streckte den rechten Arm aus und bekam das Tau neben der Treppe zu fassen. Sekunden später stand sie auf den schmalen, glitschigen Stufen und mühte sich ab, die Seilschlinge zu lösen, die sich in ihre Brust und die höllisch schmerzende Schulter eingegraben hatte. Ihr Blick war dabei jedoch starr auf den Bug des Schiffes gerichtet, das die Bordwand ihres Dampfers aufgerissen hatte. Tageslicht drang herein und erhellte den Raum, so dass Lore mit erschreckender Klarheit sehen konnte, wie das Wasser mit aller Macht in den Rumpf drang. Schon jetzt hatte die
Strathclyde
Schlagseite und kippte immer stärker.
    »Wir müssen raus, schnell!«, hörte sie Fridolin rufen.
    »Aber wir können Onkel Thomas nicht einfach hierlassen!« Lore starrte mit entsetzensweiten Augen nach unten. Dort richtete Konrad sich gerade auf, schüttelte sich wie ein nasser Hund und schien nicht zu begreifen, was um ihn herum geschah.
    »Kannst du auf eigenen Beinen stehen?«, fragte ihn Fridolin. Als Konrad nickte, versetzte er ihm einen Stoß.
    »Dann sieh zu, dass du nach oben kommst. Ich trage Herrn Simmern.«
    »Aber Sie sind doch nur ein Handtuch«, wandte Konrad ein, begriff jedoch im selben Moment, dass er nicht in der Lage war, seinen Herrn zu tragen, und begann mühsam, die Treppe hochzusteigen. Fridolin wuchtete sich den bewusstlosen Simmern auf die Schulter und folgte Konrad auf dem Fuß.
    Inzwischen war es Lore gelungen, sich aus dem Seil zu befreien. Für einen Augenblick starrte sie nach unten. Das Wasser stieg immer höher, und einmal glaubte sie sogar eine Gestalt zu sehen, die von der Wucht des eindringenden Wassers gegen die Schiffswand geschleudert wurde und dann wieder versank. Ihre Phantasie gaukelte ihr vor, es handele sich um Ruppert, und sie hoffte, dass er tot war, auch wenn dies ein sündhafter Gedanke war.
    »Jetzt mach schon!«, fuhr Fridolin sie an. Er war bereits knapp unter ihr und hörte die Rufe, mit denen die Besatzung und die Passagiere aufgefordert wurden, rasch in die Boote zu steigen.
    Lore gehorchte und stieg nach oben. Da das Schiff schräg lag, war es kaum möglich, sich festzuhalten. Doch mit Verbissenheit kämpfte sie sich mit dem unverletzten Arm hinauf.
    Konrad folgte ihr, warf dabei aber kurz einen Blick auf das Leck. Es war riesig, und es floss immer mehr Wasser herein. Lange würde die
Strathclyde
sich nicht mehr halten können. Mit dem Wissen, dass er sich beeilen musste, kletterte er hinter Lore her. Fridolin, der ihnen folgte, war so weiß wie ein Handtuch, und für kurze Zeit sah es so aus, als würde er unter der Last des Bewusstlosen zusammenbrechen und abstürzen. Doch er arbeitete sich zielstrebig auf den Niedergang zu.

XI.
     
    Lore wusste später nicht mehr zu sagen, wie sie es geschafft hatte, an Deck zu klettern. Oben herrschte schiere Panik. Nur ein Stück von der
Strathclyde
entfernt entdeckte sie den Schnelldampfer
Franconia
, der den alten Frachter gerammt und zum Sinken verurteilt hatte.
    Alle an Bord strebten zu den Booten. Auch Fridolin schleppte Simmern in diese Richtung. Lore wollte ihm schon folgen, da dachte sie mit Schrecken an Nati, die sich in einer der Kabinen versteckt hatte.
    So schnell sie es mit einem Schuh vermochte, rannte sie zum Heck und hastete die Treppe zu den Passagierkabinen hinunter. Im Korridor gab es kaum ein Durchkommen. Die in den Kabinen gelagerte Fracht hatte die dünnen Wände durchschlagen und sich über den Gang ergossen. Das Erste, was Lore wahrnahm, waren Weates’ tote Augen. Der Alarm hatte ihn wohl aufgeschreckt, und er war direkt in einen umstürzenden Stapel schwerer Kisten gelaufen.
    Lore wandte den Kopf von dem erbarmungswürdigen Toten ab und rief nach Nati. Es kam keine Antwort. Verzweifelt arbeitete sie sich weiter, bis sie die Kabine erreichte, in der sie das Mädchen zurückgelassen hatte, und

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