Dezembersturm
als einem Ausweichmanöver auf See zuzusehen.
Sie musste herausfinden, was Konrad und Onkel Thomas entdeckt hatten, und da nun alle Augen auf den anderen Dampfer gerichtet waren, konnte sie ungehindert in den vorderen Niedergang schlüpfen. Anders als auf der
Deutschland
gingen hier die Stufen schon bald in eine nicht sehr stabil wirkende hölzerne Treppe über, die steil in den Laderaum hinabführte.
Für Lore hatte es ganz den Anschein, als befände sie sich hoch über einer riesigen Halle, die von ein paar schmutzigen Bullaugen dicht unter der Decke nur spärlich erhellt wurde und Hunderte von Frachtstücken enthielt. Da waren Kästen, so groß wie eingepackte Häuser, sowie eine schier unendliche Masse von Kisten, Tonnen und Ballen, die sich wie eine düstere Landschaft unter ihr ausbreiteten.
Die leiterähnliche Treppe endete auf einem dunklen Band, das sich auf halber Höhe um den Laderaum herumzog und teilweise unter der Fracht verschwand. Es war ein Steg ohne Geländer, auf dem sich zwei schattenhafte Gestalten hastig heckwärts bewegten und durch eine Tür hinter einer Zwischenwand verschwanden, die die Seeleute Schott nannten. In dem Licht, das kurz durch die Tür fiel, sah Lore, dass es sich um einen Matrosen und einen Steward in heller Uniform handelte, aber keiner von beiden sah Ruppert ähnlich.
Als ihre Augen sich ein wenig an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte sie zwei reglose Gestalten, die unter ihr mit dem Rücken gegen Säcke gelehnt auf dem Steg lagen, als hätten sie sich dicht nebeneinander hingesetzt und wären eingeschlafen. Trotz der schlechten Beleuchtung brauchte Lore keinen zweiten Blick, um Onkel Thomas und Konrad zu erkennen.
Da die steile Treppe nur ein an wenigen Stellen befestigtes Tau als Handlauf besaß, krallte sie sich an diesem und einem weiteren, vom Niedergang herabhängenden Seil fest und kletterte hastig hin unter. Dabei dankte sie der Muttergottes für ihre Entscheidung, für die Reise die bequemen Knöpfstiefel gewählt zu haben, die Onkel Thomas ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Darin hatten ihre Füße auch auf den schmalen, abgetretenen Stufen festen Halt.
Jetzt hätte sie Fridolins Hilfe brauchen können, fuhr es ihr durch den Kopf. Doch der hatte anscheinend seinen Auftrag ganz vergessen, oder er lag in seiner Kabine und war bereits im Hafen seekrank, dachte Lore verärgert. Rasch verdrängte sie ihren Verwandten wieder aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf die Füße, um nicht abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen. Wenn sie sich einen Arm oder gar ein Bein brach, war sie für Onkel Thomas und Konrad keine Hilfe mehr. Gleichzeitig fragte sie sich, weshalb die beiden Männer so leichtsinnig in Rupperts Falle gegangen waren. Die beiden hätten doch wissen müssen, wozu der Kerl fähig war. Nun konnte sie nur hoffen, dass Nati sich gut genug versteckte, um nicht von dem Schurken gefunden zu werden.
Während sie weiter in die Tiefe stieg und vor Sorge um die beiden wie leblos Daliegenden fast verging, schrillte die Dampfpfeife des Schiffes laut auf. Gleichzeitig hörte sie die Menschen an Bord brüllen, als gäben sich sämtliche bösen Geister der See auf dem Schiff ein Stelldichein.
Lore zuckte erschrocken zusammen, erreichte dann aber die beiden Leblosen und beugte sich über sie. Onkel Thomas lag ganz friedlich da, als ob er wirklich schlafe. Konrad aber glich einer zerbrochenen, in Blut getauchten Gliederpuppe, der die Haare wie Stacheln über die Augen ragten.
Tot!, fuhr es Lore durch den Kopf. Armer, tapferer Konrad! Mary wird untröstlich sein.
In dem Moment schlug Konrad die Augen auf und starrte sie an. Er wollte etwas sagen, brachte aber nur ein paar lallende Laute hervor. Gleichzeitig ging eine Tür am Ende der Halle wieder auf, und ein Mann betrat den Laufgang, der auf sie zuführte. Er hielt eine Petroleumlampe in der Hand, deren Licht auf eine helle, blutbefleckte Uniform fiel, und trug einen großen Ballen Segeltuch und eine Taurolle auf der Schulter. Bei Lores Anblick schleuderte er seine Last mit einem Fluch von sich, stellte die Laterne ab und rannte auf sie zu.
Lore erkannte Ruppert trotz des fehlenden Bartes und der unmodisch kurzgeschorenen, gefärbten Haare. Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass es jetzt um Leben und Tod ging. Sie wirbelte herum, griff nach dem Tau, das ihr als Handlauf gedient hatte, und kletterte mit einem letzten Blick auf Konrad und Thomas wieder nach oben, um den Kapitän und dessen
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