Dezembersturm
wohnen, aber leider ist sie nicht meine richtige Tante. Das ist Ermingarde, oder, besser gesagt, die ist meine Großtante, weil sie den Bruder meines Opas geheiratet hat. Aber die mag ich überhaupt nicht. Sie ist eine ekelhafte Person, die mir alles verbieten will.«
»Bei Frau Simmern ist Nati ein Engel, so dass man sich wundern muss, wie vorlaut sie manchmal sein kann. Dabei habe ich noch nie gehört, dass Onkel Thomas’ Frau ein scharfes Wort zu ihr sagt«, bekräftigte Konrad die Ansicht des Kindes.
»Nati kann also wegen ihrer Verwandten nicht bei Onkel Thomas und dessen Frau bleiben«, stellte Lore fest und atmete insgeheim auf. Am Vortag hätte sie dies noch bedauert. Aber nun war sie froh darüber. Da Thomas Simmern verheiratet war, würde sie ungern in seinem Haus wohnen.
Konrad und Nati berichteten ihr nun von dem Stadthaus der Retzmanns, in dem sie und Nati von nun an leben würden. Dabei erfuhr Lore einiges über die anderen Familienmitglieder, deren unumstrittenes Oberhaupt nach dem Tod des alten Grafen dessen Schwägerin geworden war. Der Rest des Tages verging in einem kurzweiligen Gespräch über die Spitzen der Bremer und Bremerhavener Gesellschaft. Irgendwann kehrte die englische Krankenschwester zurück, setzte sich in eine Ecke und begann, einen Strumpf zu stricken. Man konnte ihr ansehen, wie zufrieden sie war, dass niemand ihre Dienste in Anspruch nahm.
II.
Nachdem Konrad und Nati gegangen waren, quoll das heulende Elend in Lore hoch, und sie wäre am liebsten in der abgedunkelten Kabine liegen geblieben, um sich ganz ihrem Kummer hinzugeben. Doch sie beruhigte sich schnell wieder und bat die Krankenschwester, ihr beim Ankleiden zu helfen. Kurz darauf nahm sie an der prächtig geschmückten Tafel im oberen Salon Platz. Sie trug eines der neuen Londoner Kleider, die Onkel Thomas aus den Seekoffern geholt hatte, und fühlte sich unter all den feinen Leuten um sie herum nicht mehr fehl am Platz.
Das ungewohnt reichhaltige Essen bekam ihr jedoch nicht. Erschöpft und mit Magenschmerzen kehrte sie, sobald sie es unauffällig tun konnte, in ihre Kabine zurück, machte sich ohne Hilfe für die Nacht zurecht und legte sich ins Bett. Entgegen ihrer Befürchtung schlief sie rasch ein, wachte aber mitten in der Nacht mit einer furchtbaren Übelkeit auf. Plötzlich geriet sie in Panik.
Da sie im Halbschlaf aufschrie und dann stöhnte und würgte, wardie Krankenschwester sofort bei ihr, schüttelte sie und rief etwas in ihrem zerquetschten Englisch. Ehe Lore ihr antworten konnte, stürmten Onkel Thomas und Konrad in die Kabine. »Lore! Ist dir etwas passiert?«, fragten beide wie aus einem Mund.
Lore schob die Krankenschwester vorsichtig beiseite und schüttelte sich. »Nein – und euch auch nicht, nicht wahr? Ich glaube, ich hatte einen Alptraum. Ich habe Leute mit großen Planen herumschleichen sehen, die uns einwickeln und ins Wasser schmeißen wollten. Die Kerle hatten lange Messer bei sich, und einer war wie ein Steward gekleidet.«
Onkel Thomas schüttelte freundlich lächelnd den Kopf. »Glaub mir, hier schleicht niemand herum, der uns etwas antun will. Das sind nur deine Nerven. Du hast in den letzten Monaten mehr mitgemacht, als manch ein erwachsener Mann in seinem ganzen Leben ertragen kann.«
Lore holte tief Luft und setzte sich auf, um Nati zu entkommen, die heimlich wieder in ihr Bett gekrochen war und sich ohne Rücksicht auf ihren schmerzenden Arm an sie klammerte. Dabei stieß sie ihren Atem zwischen den zusammengebissenen Zähnen heraus, um ein wenig von der Wut abzulassen, die in ihr hochstieg. Sie hasste es, wenn man sie wie ein dummes, kleines Mädchen behandelte.
»Himmelherrgott! Onkel Thomas, du selbst hast vor unserer Abreise aus Southampton gesagt, dass uns auf diesem Schiff hier Gefahr durch Rupperts Handlanger drohen könne. Deswegen sind wir doch mit der
Strathclyde
gefahren. Also hat Ruppert auch hier auf der
Feldmarschall Moltke
Kumpane. Warum tust du jetzt so, als wäre alles in Ordnung? Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen ist. Schließlich bin ich keine zerbrechliche Puppe, von der man alles fernhalten muss!«
Konrad nickte. »Sie hat recht, Käpt’n! Wir hätten ihr alles erzählen müssen.«
»Ja, das ist richtig«, sagte Thomas Simmern, der mit einem Mal sehr ernst wurde. Er schickte die Krankenschwester hinaus und wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann kniete er neben Lores Lager nieder, nahm ihre Hand und
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