Dezembersturm
Wie es aussah, war die Kleine diesen Service gewohnt, denn sie forderte Lore auf, der Krankenschwester und der Stewardess ein Trinkgeld zu geben.
»Vergiss auch den netten Steward nicht, der uns gleich die Gepäckträger besorgen wird«, setzte sie mit großem Stolz auf ihre Reiseerfahrung hinzu.
Lore zögerte. Zwar hatte Onkel Thomas ihr eine Börse mit einigen Münzen und ein paar Banknoten gegeben, doch sie hatte keine Vorstellung davon, wie viel Trinkgeld angemessen war. Nati half ihr aus der Klemme, indem sie ihr die Summen zuraunte. In gewisser Hinsicht war die Kleine ihren Altersgenossen tatsächlich weit voraus. Sie benahm sich nun auch wie eine kleine Dame, als sie neben Lore hertrippelte und hinter Onkel Thomas an Land stieg.
Eine schlanke, blasse Frau um die dreißig erwartete sie vor dem Kontor. Thomas Simmerns Blick hellte sich auf, als er sie sah, und er trat mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, als wolle er sie umarmen. Aber er beherrschte sich und küsste ihr nur die Hand.
»Guten Tag, meine Liebe. Du hättest den anstrengenden Weg von Bremen hierher wirklich nicht antreten müssen.«
»Es ist ein schöner Tag, und der Arzt sagte, ich solle ins Freie gehen. Was lag da näher, als hierherzufahren und dich zu begrüßen? Du bist doch hoffentlich bei guter Gesundheit, mein Lieber? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Man hat allerlei Unschönes aus England gehört.«
Thomas Simmern ging mit einer wegwerfenden Handbewegung über diese Bemerkung hinweg. »Die Zeitungen bauschen alles gewaltig auf. Wir selbst hatten nur ein wenig Ärger mit Ruppert von Retzmann. Doch der dürfte jetzt Ruhe geben. Auf jeden Fall freueich mich, dich wiederzusehen. Darf ich dir Fräulein Lore Huppach vorstellen? Graf Retzmann hat sie kurz vor seinem Tod als Gesellschafterin seiner Tochter eingestellt. Das war eine glückliche Wahl, denn sie hat Komtess Nathalia in jener Schreckensnacht an Bord des Havaristen das Leben gerettet und auch Konrad und mir sehr geholfen!«
»Oh? Guten Tag!« Dorothea Simmern kam auf Lore zu und reichte ihr die Fingerspitzen. »Es freut mich, dass Sie gut mit Nathalia auskommen. Sie ist ein liebes Kind, kann aber manchmal ein wenig schwierig sein.«
»Bin ich nicht!«, rief Nati dazwischen.
Lore drückte das Kind sanft an sich und musterte die ätherisch schöne Frau, die sie eben lächelnd begrüßte. Jetzt verstand sie, warum Thomas Simmern Schwierigkeiten mit ihrer burschikosen Art hatte. Frau Dorothea Simmern war ein zartes Wesen, das von jedem lauten Ton und jedem harten Wort verletzt werden konnte. Die Anstrengungen einer gewöhnlichen Reise würden sie wohl umbringen, geschweige denn die Kette von Gefahr und Gewalt, die sie selbst in den letzten zweieinhalb Monaten erlebt hatte. Dennoch war die Dame ihrem Gemahl von Bremen aus entgegengefahren, und sie wirkte auf sie auch nicht so kränklich, wie es nach Konrads Worten zu erwarten gewesen war.
Dorothea Simmern musterte ihr Gegenüber ebenfalls genau. Zwar wirkte Lore blass und erschöpft, doch Dorothea begriff, dass ihr ein hübsches, gesundes Mädchen an der Schwelle zur Frau gegenüberstand, das einmal eine Schönheit zu werden versprach. Sie bemerkte auch den Schmerz in Lores Blick, als dieser ihren Mann streifte, und musterte Thomas rasch. Nein, zwischen den beiden war nichts Ungebührliches geschehen, das fühlte sie. Dennoch beschloss sie, auf der Hut zu sein. Das hinderte sie jedoch nicht daran, Lore freundlich zuzulächeln und Nati zu streicheln.
Nun gesellte sich auch Fridolin zu der Gruppe. Sein Gesicht zeigte noch eine grünliche Färbung, und er sah aus, als würde er vor Erleichterung, festen Boden unter den Füßen zu haben, am liebsten das Pflaster zu seinen Füßen küssen. Doch er hatte sich trotz seiner Unpässlichkeit sorgfältig angezogen und dabei auf den auffälligen, gelben Mantel verzichtet.
Thomas Simmern fasste ihn am Arm und führte ihn zu seiner Frau. »Darf ich dir noch einen Reisegefährten vorstellen, meine Liebe? Das hier ist Freiherr Fridolin von Trettin. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken und Konrad ebenfalls.«
Dorothea Simmern reichte Fridolin die Hand, die er mit vollendeter Eleganz küsste. »Es ist mir eine Freude, Sie begrüßen zu dürfen«, sagte sie.
»Herr von Trettin ist mit Lore verwandt«, erklärte ihr Mann und fachte damit ihr Interesse noch mehr an.
»Sie sind ein Verwandter? Wie schön! Dann werden Sie gewiss noch eine Weile in Bremen bleiben wollen. Darf ich Sie zu uns
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