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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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wie möglich von Natis Reichtum zu profitieren. Ihre Großtante Ermingarde Klampt und ihren Anhang muss der Käpt’n dort sogar dulden, denn die Dame gehört zur tonangebenden Gesellschaft von Bremen, und es gäbe viel böses Gerede, wenn er sie vor die Tür setzen würde.
    Als Graf Retzmanns einzige noch lebende Schwägerin hat sie nun einmal in den Augen der Leute das Recht, sich um Nati zu kümmern und das Haus Retzmann in der vornehmen Gesellschaft zu vertreten. Die Dame war die Frau des jüngeren Bruders. Zwar hat die Ehe nur drei Jahre gedauert, denn ihr Mann ist mit so einem neumodischen Hochrad verunglückt und hat sich den Hals gebrochen. Aber die Zeit hat dem Paar ausgereicht, sein Erbe bis auf den letzten Groschen zu verjubeln und einen Haufen Schulden zu machen, die Natis Großvater begleichen musste.
    Ermingarde ist nicht lange Witwe geblieben, sondern hat sicheinen bürgerlichen Handschuhfabrikanten angelacht, und aus dieser Ehe stammen ihre beiden Kinder. Ihr Sohn und ihre Tochter sind also nicht mit Nati verwandt. Allerdings hatte Ermingarde auch mit diesem Gatten nicht viel Glück, denn da sie gewohnt war, auf großem Fuß zu leben, schmolz dessen Vermögen wie Schnee in der Sonne. Der Mann ging pleite und hat sich zuletzt eine Kugel in den Kopf geschossen. Aus diesem Grund dürfte es Ermingarde und ihren Anhang freuen, dass sie sich jetzt bei Nati festsetzen und wie Maden im Speck leben können.«
    »Schluss jetzt mit dem Geschwätz, Konrad!«, unterbrach Onkel Thomas seinen Diener. »Ab morgen kann Lore sich selbst ein Bild von den Verhältnissen machen. Du stopfst ihr ja den Kopf mit Vorurteilen voll!« Dann beugte er sich über Lore und gab ihr einen Handkuss. »Schlafe noch ein paar Stunden, meine tapfere, energische junge Dame. Ab morgen beginnt ein neues, ruhigeres Leben für dich. Und du, Nati, solltest eigentlich in deinem eigenen Bett schlafen!«
    Die letzten Worte galten der Kleinen, die durch das Gespräch wieder aufgewacht war. Statt einer Antwort kroch das Kind nur noch tiefer unter die Decke, bis es ganz darunter verschwunden war.
    »Lass sie, Onkel Thomas. Das Bett ist ja wirklich breit genug für uns zwei. An ihrer Stelle würde auch ich nach alle dem, was passiert ist, nicht allein schlafen wollen. Ich aber danke dir für das Vertrauen, das du mir geschenkt hast, und wünsche dir für den Rest der Nacht noch einen guten Schlaf.«
    »Wir dir auch«, antwortete Onkel Thomas und schob den zögernden Konrad mit gewohntem Griff aus der Kabine. Kurz darauf schlüpfte die Krankenschwester herein, setzte sich auf ihren Platz im Sessel bei der abgeschirmten Lampe und nahm ihre Strickarbeit wieder auf.
    Lore strich Nati über die wirren Haare. »Ich bin wirklich gespannt darauf, deine Verwandten kennenzulernen.«
    Nati brummte etwas Undeutliches, das sich anhörte wie: »Die sollen Ruppert in die Hölle folgen.«
    Eine Antwort darauf verkniff Lore sich. Auch sie fühlte sich unendlich müde und schlief trotz der Schmerzen in ihrer Schulter bald ein.

III.
     
    Lore erwachte erst, als die Gongs am nächsten Morgen zum Frühstück riefen. Die Sonne schien hell durch die Bullaugen, und das Schiff vibrierte und dröhnte im Takt der stampfenden Maschinen. Lore glaubte, sich mittlerweile daran gewöhnt zu haben, und hoffte, dass es Fridolin ebenfalls besserging. Sie fühlte sich zumindest frischer als am Vortag.
    Trotzdem gab ihr die Schwester erst nach einer gründlichen Untersuchung die Erlaubnis, aufzustehen. Als Lore das Deckhaus aufsuchte, in dem bei schönem Wetter für die Passagiere der ersten Klasse das Frühstück serviert wurde, war ihr, als seien über Nacht alle Schrecken und Ängste von ihr gewichen. Zum ersten Mal seit Tagen aß sie mit gutem Appetit, und sie freute sich darauf, bald wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
    Noch während des Frühstücks erreichte die
Feldmarschall Moltke
die Geestemündung und wurde von den Schleppern an ihren Platz vor der großen Wartehalle des NDL bugsiert. Lore blickte immer wieder durch das Fenster und spürte eine grenzenlose Erleichterung. Nach Wochen der Anspannung und der Gefahr lag ein sonniger Wintertag vor ihr, an dem weder Ruppert sie bedrohen noch ein Schiff mit ihr untergehen würde.
    Während die ersten Passagiere zur Gangway eilten, kehrte Lore inihre Kabine zurück, um ihre Koffer zu packen. Es schien an Bord jedoch Heinzelmännchen zu geben, denn es stand schon alles bereit. Auch Natis Sachen lagen schon in den Koffern.

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