Dezembersturm
einladen? Natürlich könnten Sie auch im Stadthaus der Retzmanns bleiben, doch das halte ich wegen der dort herrschenden Trauer um das Familienoberhaupt nicht für angeraten.«
»Herzlichen Dank! Ich würde mich freuen, noch einige Tage in Bremen bleiben zu können.« Fridolin dachte mit Schrecken an seine Berliner Hauswirtin, die seine Sachen wahrscheinlich längst auf den Speicher gestellt und sein Zimmer weitervermietet hatte.
Durch einen leisen Unterton in der Stimme seiner Frau alarmiert, hob Thomas Simmern den Kopf. »Ich glaube, wir sollten aufbrechen, sonst verpassen wir den Zug nach Bremen. Wenn wir auf den nächsten warten müssen, wird es arg spät. Konrad, kümmerst du dich um unser Gepäck?«
»Aye, aye, Käpt’n!« Konrad erledigte diese Aufgabe, indem er eine Gruppe von Dienstmännern herbeirief und sie anwies, die Sachen zum Zug zu bringen. Sein Herr reichte Dorothea den Arm undführte sie zum Bahnsteig. Lore wollte ihnen mit Nati folgen, doch da streckte ihr Fridolin die Hand entgegen.
»Schönes Fräulein, darf ich’s wagen …«
»Da der andere Arm verletzt und verbunden ist, habe ich leider nur eine Hand zur Verfügung, und mit der muss ich Nati halten.«
Fridolin lachte jedoch nur und sah auf Nati herab. »Darf ich um deine Hand bitten?«
»Also, zum Heiraten ist Nati noch etwas zu jung, falls dir ihr Vermögen ins Auge gestochen haben sollte«, spottete Lore.
»So habe ich es auch nicht gemeint!« Ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, nahm Fridolin die Kleine bei der anderen Hand und ging mit ihr und Lore hinter Thomas Simmern und dessen Frau her.
Dorothea drehte sich kurz um und musterte die drei. Dabei gingen ihre Gedanken ganz eigene Pfade, und mit einem Mal trat ein Lächeln auf ihre blassen Lippen. Sie wusste jedoch selbst, dass sie erst einige andere Dinge klären musste, bevor sie ihre Idee in die Tat umsetzen konnte.
IV.
Lore fühlte sich wie erschlagen, als sie das einem Palast gleichende Stadthaus der Retzmanns vor sich sah. Gegen dieses Gebäude war selbst das Gutshaus auf Trettin nur eine Hütte. Beklommen folgte sie Dorothea Simmern in die Eingangshalle, die mit Trauerflor und bleichen Chrysanthemen geschmückt war. Doch die Weise, die eben von einer Kapelle tiefer in den Räumlichkeiten gespielt wurde, klang nicht nach einem Trauermarsch.
Mit zusammengekniffenen Lippen winkte Dorothea Lore undden anderen, mit ihr zu kommen, und betrat einen farbenfroh dekorierten Saal. Die Mienen der Gäste, die dort an einer großen Tafel saßen und schmausten, wirkten alles andere als traurig oder düster. Sie prosteten einander zu, und ein junger Mann forderte die Kapelle gerade auf, einen Walzer zu spielen.
»Wir wollen tanzen!«, rief er und verbeugte sich vor seiner Tischnachbarin. Noch während diese kichernd aufstand, entdeckte ihr Kavalier Dorothea Simmern und deren Anhang.
»Ich glaube, wir haben Gäste«, stotterte er und machte die Feiernden auf die Gruppe aufmerksam.
Dorothea Simmern zog ein goldenes Lorgnon aus einem Beutel, ähnlich jenen, welche die vornehmen englischen Matronen bei dem Weihnachtsessen in London benutzt hatten, hob es vor ihre Augen und musterte damit eine füllige Dame, die am Kopfende der großen Tafel thronte. Sie trug ein lachsfarbenes Gewand und fünf Reihen erbsengroßer Perlen um den Hals. Auch sonst hatte sie mit Armbändern und Broschen nicht gespart. Das einzige Zeichen der Trauer waren zwei schwarze Tüllstreifen, die von der Brosche unterhalb ihres recht tiefen Ausschnitts herabhingen. Ihr jugendlicher Aufzug passte wenig zu einer Frau im fortgeschrittenen Alter mit zahllosen Falten im Gesicht, das sich eben dunkelrot färbte, während ihr Mund sich lautlos öffnete und schloss.
Auf den Wink des Mannes, der eben noch hatte tanzen wollen, erstarb die Musik mitten im Lied. Dorothea Simmern schwebte förmlich auf die Gastgeberin zu und bat sie mit schwacher Stimme um Verzeihung, weil sie ihr Fest gestört habe. »Oh, das tut mir ja so leid! Aber ich habe nicht erwartet, in einen großen Ball hineinzuplatzen. Ich nahm an, ein stilles Trauerhaus vorzufinden, in das ich die junge Hausherrin und ihre Lebensretterin bringen wollte.«
Jedes ihrer Worte stellte eine Ohrfeige für die hakennasige Dame dar. Eine Frau zwischen dreißig und vierzig, die wie eine jüngereAusgabe von Ermingarde Klampt wirkte, zog den Kopf ein, während ein Mann, der der jüngeren Dame ähnlich sah, so wirkte, als wünsche er Dorothea Simmern und ihre
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