Dezembersturm
wartete.
»Das ist Inge Busz, die Wirtschafterin. Sie ist seit fünfundzwanzig Jahren im Hause Retzmann und kennt es in- und auswendig. Sie wird dir eine große Stütze sein.« Bei diesen Worten lächelte Dorothea der untersetzten Wirtschafterin freundlich zu.
»Inge, das ist Lore Huppach, Nathalias Gesellschafterin und Lebensretterin. Konrad wird dir ja schon das Nötigste berichtet haben, nicht wahr?«
Die Frau in einem strengen, dunkelblauen Kleid mit einer weißen Schürze nickte eifrig. »O ja, gnädige Frau. Er hat mir alles erzählt. Liebes Fräulein Lore – so darf ich Sie doch nennen, ja? –, ich heiße Sie herzlich im Hause Retzmann willkommen und hoffe, Sie werden sich hier bald ganz wie zu Hause fühlen. Ich darf Ihnen versichern, dass alle Dienstboten schon Bescheid wissen und bis auf die Zofe und die beiden Lakaien, die Frau Klampt mitgebracht hat, auf Ihrer Seite stehen. Konrad hat uns versichert, dass Sie gewillt sind, unserer kleinen Komtess all die Liebe zu geben, die sie dringend braucht, und sie dennoch so zu erziehen, dass ihr Großvater stolz auf sie wäre. Wir freuen uns, dass es jemanden gibt, der unser kleines Teufelchen liebt, es versteht und gewillt ist, ihm eine gute Hüterin und eine treue Freundin zu sein, bis es eines Tages eine feine, junge Dame geworden ist.
Frau Klampt und ihre Kinder wohnen übrigens im Westflügel des Hauses, den sie ganz in Beschlag genommen haben. Sie werden ihnen also nicht ständig über den Weg laufen müssen.«
Lore schüttelte Frau Busz die Hand und versprach ihr, Nati wie ihren Augapfel zu hüten und alles zu tun, um aus dem Kind ein wohlerzogenes Fräulein zu machen.
»Das wirst du, meine Liebe, das wirst du.« Dorothea verabschiedete sich von Frau Busz und klopfte Lore sacht auf den Rücken. »Mein Mann wird gewiss schon ungeduldig sein, liebe Lore.
Erlaube, dass ich dich jetzt verlasse. Du musst nicht mitkommen und adieu sagen. Deine Pflichten bei Nati entschuldigen dich.« Sie schenkte Lore noch ein Lächeln, dann entschwebte sie.
Lore blickte ihr einen Augenblick nach, winkte anschließend der Wirtschafterin zu und stieg wieder nach oben, um in ihr und Natis Schlafzimmer zu gelangen. Auf der Treppe kam ihr eine junge Frau in einem schwarzen Kleid, weißer Schürze und weißem Käppchen entgegen. Lore wollte an ihr vorbeigehen, da presste die andere die Hände gegen die Schläfen und wich mit flackernden Augen zurück.
»Fräulein Lore? Das gibt es nicht!«
Es dauerte einen Moment, bis Lore ihr Gegenüber erkannte. »Elsie! Was machst du denn hier?« In diesen wenigen Worten lag ihre ganze Enttäuschung über ihr einstiges Dienstmädchen.
»Ich … ich bin als Zofe in Frau Klampts Diensten«, stotterte Elsie, die noch immer nicht fassen konnte, die Person vor sich zu sehen, die sie so schmählich im Stich gelassen und bestohlen hatte.
Lore erinnerte sich nur zu gut an die furchtbaren Stunden, die sie durchlebt hatte, nachdem Elsie mit Gustav verschwunden war. Die beiden hatten ihr nicht nur die Seekiste mit ihren Sachen entwendet, sondern auch das gesamte Geld gestohlen, welches für die ersten Monate in Amerika hätte reichen sollen. Inzwischen wusste sie zwar, dass ihr Großvater die wirklich wertvollen Sachen in dem alten Schiffermantel versteckt hatte. Und laut Onkel Thomas’ Auskunft sollte sie eine beträchtliche Summe bei einer amerikanischen Bank besitzen. Doch das löschte nicht die Enttäuschung aus, die Elsie ihr bereitet hatte.
»Wie kommt es, dass du wieder als Zofe arbeiten musst? Mein Großvater hatte dir viel Geld für einen neuen Anfang in Amerika gegeben. Außerdem hast du einige hundert Taler gestohlen, die mir gehört haben!« Lores Stimme klang scharf, und sie überlegte, ob sie ihre diebische Zofe nicht der Polizei übergeben sollte.
Elsie sank demütig vor ihr auf die Knie. »Verzeihen Sie mir, Fräulein! Ich wollte Sie nicht bestehlen! Aber ich hatte einfach zu viel Angst vor dem Schiff. Ich wollte nicht mitten auf dem Meer sterben, wie es so vielen Menschen auf der
Deutschland
ergangen ist. Das müssen Sie doch verstehen!«
Während sie vorgab, vor Reue und Verzweiflung zu vergehen, beobachtete Elsie Lores Gesichtsausdruck. Früher war das Mädchen unsicher und leicht bereit gewesen, die Meinung anderer höher zu achten als die eigene. Doch die Lore, die ihr nun gegenüberstand, war aus einem anderen Holz geschnitzt.
»Gustav war schuld! Er allein!«, schrie Elsie panikerfüllt. »Er hat mir noch mehr Angst
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