Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
verschwand. Die Rauchfahne war dünn und verwehte schnell im Wind, und wenn es sich wirklich um einen Dampfer handelte, so fehlten diesem die Masten für die Segel. Dazu taumelte das Ding wie betrunken auf den hohen Wellen, die es immer wieder hochwarfen und dann zu verschlucken schienen. Einen Retter stellte Lore sich anders vor.
    »Sehen Sie es auch, junge Dameff«, fragte einer der Matrosen, der nicht recht glauben wollte, was ihm die Augen zeigten.
    Lore wollte etwas sagen, brachte aber nur ein Krächzen über die Lippen. Daher nickte sie heftig. Der junge Matrose atmete auf und hangelte sich so schnell, wie er konnte, an den Tauen hinab. Unten angekommen, redete er mit Händen und Füßen auf den Kapitän ein. Brickenstein schüttelte zunächst ungläubig den Kopf, kletterte dann aber trotz seines gesetzten Alters mit der Schnelligkeit eines Zirkusaffen zu Lore empor. Auf der Plattform angekommen, nahm er ein abgeschabtes Fernrohr aus der Tasche, zog es aus und richtete es auf den langsam größer werdenden Fleck.
    »Herrgott im Himmel! Das ist ein alter Dampfschlepper – und er hält Kurs auf die
Deutschland!
Wenn der uns erreicht, bevor dieFlut voll aufläuft …«, flüsterte er mit bebenden Lippen, während er sein Fernrohr mit einem heftigen Ruck zusammenschob. Um seine Aufregung zu verbergen, schnauzte er Lore und den Matrosen an, endlich aus dem Ausguck zu verschwinden.
    Lore ließ sich von dem jungen Mann helfen, Nati wieder sicher vor ihrer Brust festzubinden, damit das Kind beim Abstieg aus dieser schwindelnden Höhe nicht abrutschte und das Schicksal seines Großvaters teilte. Während sie vorsichtig nach unten kletterte, fragte sie sich, wie sie sich verhalten solle. Am liebsten hätte sie dem Kapitän berichtet, dass Nathalias Großvater nicht durch einen Unfall, sondern durch Mord umgekommen war. Da ihr Wort gegen Rupperts stand, war es jedoch unwahrscheinlich, dass Brickenstein ihr Glauben schenken würde. Natis Vetter war ein erwachsener Mann und von Adel, während man sie für ein vor Schreck durchgedrehtes Dienstmädchen halten und ihr Nathalia sofort abnehmen würde. Aus diesem Grund beschloss sie, vorerst den Mund zu halten und sich erst dann einem Menschen anzuvertrauen, wenn Nati und sie in Sicherheit waren. Mit verbissener Miene hielt sie noch einmal nach dem Schlepper Ausschau. Dieser war jetzt schon recht nah, und er hielt tatsächlich auf die
Deutschland
zu.
    Als Lore endlich auf dem verwüsteten Heck des Schiffes stand, das die Kämme der Wogen kaum noch überragte, wurde ihr bewusst, dass sie mehr Angst vor Natis mörderischem Vetter hatte als vor der immer noch aufgepeitschten See.
    Ruppert von Retzmann saß auf einem Poller neben dem halb eingestürzten Ruderhaus und ließ sich ein Stück schwarze Wurst und eine Scheibe Schwarzbrot schmecken, während die anderen Passagiere dicht gedrängt an der Reling standen und zu dem Schiff hinüberstarrten, von dem sie sich Rettung erhofften.
    Der Schlepper kämpfte mit zwei großen, aber angesichts der tobenden See sehr zerbrechlich wirkenden Schaufelrädern an denSeiten mühsam gegen die Strömung an, und seine überlastete Maschine schnaufte und pfiff, als wolle sie jeden Moment den Dienst versagen. Verglichen mit dem riesigen Rumpf der
Deutschland,
wirkte der Radschlepper wie ein Kinderspielzeug, das nur aus Versehen in den Ozean geraten war und mit dem die Wellen nun Ball spielten. Aber beharrlich kam er näher.
    Um auf das sicherere Hinterdeck zu gelangen und damit auch aus Rupperts Nähe zu kommen, musste Lore sich dicht an diesem vorbeidrängen. Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen und streckte die Hand aus, als wolle er sie festhalten. Lore wich zwei Schritte zurück und umklammerte Nati, die unter ihrem Mantel aufgewacht war und zu weinen begann. Sie las eine unverhüllte Drohung in Rupperts Augen, die von dem spöttischen Lächeln, das um seine Mundwinkel zuckte, noch unterstrichen wurde. Zuerst schien es, als wolle er ihr folgen, dann zuckte er jedoch mit den Schultern und rückte zur Seite, damit sie passieren konnte. Als sie an ihm vorbeiging, hörte sie ihn leise lachen.
    Lore humpelte steifbeinig zu einem der zerbrochenen Fenster, die dem nun unter Wasser stehenden oberen Salon einst Tageslicht ge spendet hatten, und ließ sich auf dessen Rahmen nieder. Mit fliegenden Händen löste sie die Schals und Schnüre, mit denen Nati an ihr festgebunden war.
    Bei Rupperts Blick war ihr klargeworden, dass er als Nathalias

Weitere Kostenlose Bücher