Dezembersturm
verschlingen.
Obwohl Lore erst seit kurzem Katholikin war und ihre Frömmigkeit mehr angelernt war als wirklicher Glaube, wollte sie näher an die Nonnen heranrücken, um gemeinsam mit ihnen zu beten. Nathalia aber bemerkte ihre Absicht und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. »Nein! Nein! Du gehst nicht zu den Betschwestern. Bei ihnen ist der Tod! Meine Mutter hat auch mit einer dieser schwarzen Krähen gebetet, statt mit mir in das erste Rettungsboot zu steigen! Deswegen ist sie gestorben, und dann mussten sich fremde Leute um mich kümmern!«
»Pst! Nati, schäm dich! So etwas darfst du niemals sagen. Die Nonnen sind sehr nett, und sie beten für unser aller Rettung. Ich glaube, das ist das Einzige, was uns noch helfen kann. Wir beide sollten ebenfalls beten.« Obwohl Lore versuchte, Nathalia zu beruhigen, quengelte diese so lange, bis sie nachgab und sich trotz der gischtgetränkten Windböen, die von oben hereinstoben, auf die Freitreppe setzte. Dabei starrte sie auf das eindringende Wasser, das näher und näher kam, bis es schließlich durch den Salon schwappte und sich anschickte, die Sofas zu ertränken.
Die Passagiere, die auf den Tischen keinen Platz mehr fanden, drängten nun über die Freitreppe nach oben. Doch im Deckpavillon und auf der Brücke standen die Menschen bereits so dicht, dass keine Maus mehr dazwischenpasste. Deswegen befahl Kapitän Brickenstein gegen zwei Uhr nachts allen männlichen Passagieren, zusammen mit den Matrosen in die Wanten der beidenMasten zu klettern, damit Frauen und Kinder in den Deckaufbauten Platz finden konnten. Angesichts des tobenden Wintersturms war diese Kletterpartie selbst für kräftige und mutige Männer ein Alptraum. Doch das Wasser trieb die zögernden Menschen unbarmherzig vor sich her.
Lore drückte Nati so fest an sich, dass die Kleine die Arme um ihren Hals und die Beine um ihre Taille schlingen konnte. Dann ließ sie das Mädchen von einem Matrosen vor ihrer Brust festbinden, um selbst die Hände frei zu haben. Geborgen in ihrem Pelz, hing Nati unter dem voluminösen Segeltuchmantel wie ein kleines Äffchen auf dem Bauch der Mutter. Während immer mehr Frauen an Deck strebten, war Lore bemüht, den alten Grafen und dessen vor Angst schlotternden Diener nicht aus den Augen zu verlieren. Von oben warf sie noch einen letzten Blick in den Salon hinab, wo das Wasser schon auf Sitzhöhe der Sofas schwappte und die zurückgebliebenen Frauen dicht an dicht auf den stabilen Tischen standen, die Gesichter teils verzweifelt, teils hoffnungsvoll den betenden Franziskanerinnen zugewandt.
Obwohl Kapitän Brickenstein unermüdlich versuchte, Herr der Lage zu bleiben und für alle einen sicheren Platz zu schaffen, standen die Menschen im Deckpavillon so eng beieinander, dass ihnen trotz der hereinfauchenden Sturmböen kaum Luft zum Atmen blieb.
Aus Angst, Nati könnte durch die dichtgedrängten Menschen zu Schaden kommen, wich Lore immer weiter auf das offene Deck hinaus. Schon bald wurde sie von jedem Brecher mit Gischt überschüttet, und das über das Deck schlagende Wasser drohte sie von den Beinen zu reißen. Verzweifelt klammerte sie sich an den Türrahmen des Deckpavillons und suchte nach einem sichereren Ort. Nati krümmte sich vor Angst und schrie nach ihrem Großvater. Für Lore verlor die Vorstellung, an einem dünnen Seil hoch über der kochenden See zu hängen, allmählich ihren Schrecken. Alleswar besser, als weiterhin der eisigen Gischt ausgeliefert zu sein und Angst haben zu müssen, von der nächsten Welle erfasst und über Bord gerissen zu werden. Sie hielt den nächsten Matrosen an, der sich an ihr vorbeihangelte, und bat ihn, auch sie zu einem der Masten zu bringen.
Der Matrose schüttelte den Kopf und schrie: »Nur die Männer! Kapitän …«
Ein Schwall eiskalten Wassers riss ihm die Worte vom Mund, und Lore fühlte eine Welle von Panik in sich aufsteigen. Sollte sie hier draußen stehen bleiben, bis die nächste, größere Woge sie und Nati mit sich nahm und unbarmherzig ertränkte? Sie hatte noch die Schreie der Matrosen im Ohr, die mit den verunglückten Rettungsbooten mitgerissen worden waren. Mit aller Kraft klammerte sie sich an den Mann und hinderte ihn daran, weiterzuklettern. Er rief etwas, das wie Ruderhaus klang. Doch auch dort standen die Leute zusammengepresst wie Heringe in einem Fass. Im schwachen Schein der Petroleumlampen, der aus dem Inneren drang, sah Lore die Kette der Matrosen, die den Männern half, zum
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