Dezembersturm
vorderen Mast zu kommen, an dessen Fuß schon die Wellenkämme hochbrandeten.
Gerade als Lore überlegte, doch zum Ruderhaus zu gehen, zerrten die Matrosen den alten Diener des Grafen hinaus in die Dunkelheit. Der Mann brüllte vor Angst, als wollten sie ihn umbringen.
»Lasst den armen Mann hier und bringt mich zu Graf Retzmann hoch«, schrie Lore gegen den pfeifenden Sturmwind an. »Ich habe seine Pillen in der Tasche. Er braucht sie dringend!«
Die Männer stutzten und sahen den Kapitän an. Der warf einen Blick auf Lores ärmlichen, skurrilen Aufzug, zuckte mit den Schultern und winkte den Matrosen zu, sie zum vorderen Mast zu bringen. Er hatte sie als Dienstbotin eingestuft, und mit solchen machte man nicht viel Federlesens. Lore wurde daher wie ein Sack durchgereicht und dann von mehreren Männern angehoben, bissie die Sprossen einer Art Strickleiter greifen konnte. Diese war nass, teilweise mit Eis überzogen und führte nach oben in eine unheimliche Schwärze. Irgendwo dort aber musste Nathalias Großvater sein.
Zwei, drei Herzschläge lang klammerte Lore sich wie zu Stein erstarrt an die Wanten. Unter ihr brauste das Wasser von den Schlägen des Sturms. Windböen zerrten an ihr, und Nati hing wie ein Bleiklumpen an ihrem Hals. Die Matrosen unter ihr schimpften, weil sie nicht weiterkletterte. In ihrem Rücken heulte eine Frau auf, und ihre durch Mark und Bein dringende Stimme übertönte sogar das Crescendo der Elemente.
»Mein Kind, mein Adam ist tot! Er ist ertrunken!«
Der Gedanke, dass Nati ebenso sterben könnte wie der kleine Junge, gab Lore den notwendigen Ruck. Sie biss die Zähne zusammen und stieg die schwankenden Seilstege aufwärts, bis sie die Stimme des alten Grafen über sich hörte. Graf Retzmann hatte Natis Geheul vernommen und leitete Lore mit knappen Befehlen zu sich. Gemeinsam mit einem anderen Passagier half er ihr auf die kleine Ausguckplattform, die sich ungefähr in halber Höhe des Mastes befand, und band sie dort mit dem langen Gürtel ihres Segeltuchmantels und einem am Mast herabhängenden Tauende fest. So saß sie in schwindelnder Höhe gegen das glatte Holz gelehnt, während Nati wohlverpackt auf ihrem Schoß hockte, und musste mit anhören, wie unter ihr der Tod seine Ernte einfuhr.
Die See schickte immer höhere Wellen, die mit zerstörerischer Wucht über das Schiff hereinbrachen. Die Brecher ließen den Mast erzittern, so dass die Wanten wie Klaviersaiten vibrierten und die Taue, an denen die Menschen sich festhielten, aus so manch kraftloser, zu Eis erstarrter Hand gerissen wurden.
Von allen Seiten drangen die Wellen in den Salon und rasten durch das Deckhaus, als bestände es aus Papier. Sie ertränkten die Menschen an Deck, die nicht mehr zu den Masten hatten flüchtenkönnen, und trugen auch unbarmherzig jeden mit sich fort, der in luftiger Höhe seinen Halt verloren hatte.
IX.
Als es hell wurde, gab die Ebbe das Deck des Schiffes frei und machte das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Nach den Rettungsbooten waren nun auch die hochgelobten Patentflöße verschwunden, und die Aufbauten bestanden nur noch aus kläglichen Resten. Von den Menschen, die an Deck geblieben waren, lebten nur noch sieben Frauen und ein alter Mann. Diese hatten sich an die Oberlichten des oberen Salons geklammert und den Wellen getrotzt, die stundenlang über sie hinweggeflutet waren. Auch einige derer, die sich in die Takelage geflüchtet hatten, waren der Kälte und der Wucht der entfesselten Elemente erlegen.
Ein Mann, der sich weiter unten am vorderen Mast festgebunden hatte, war von einem durch die Wellen herumgeschleuderten Gegenstand enthauptet worden, und sein Oberkörper neigte sich mit ausgestreckten Armen dem Wasser zu, als suche er verzweifelt seinen Kopf.
Kapitän Brickenstein und zwei Matrosen kletterten als Erste hinab, um den Toten zu bergen und den verstörten und erschöpften Passagieren den Weg auf das Deck frei zu machen.
Lore saß wie versteinert auf der kleinen Plattform und wagte es nicht, nach unten zu sehen. Mit schmerzenden Armen drückte sie das schlafende Kind an sich, dessen Gesicht vom Weinen nass war, und starrte auf den hinteren Mast, von dem ein Passagier nach dem anderen mit schwerfälligen Bewegungen auf das Deck hinabstieg. Die meisten stolperten noch ein paar Schritte weiter, ließensich dann fallen und blieben liegen. Genau wie hier auf dem vorderen Mast hatten auch dort einige Passagiere und Seeleute in der eisigen Kälte den Halt
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