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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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letzter männlicher Verwandter so lange als Vormund des Kindes gelten würde, bis das Bündel Briefe, das sie in einer der Innentaschen ihres Mantels trug, in die richtigen Hände gelangt war. Nur Nati selbst und diese Papiere standen zwischen Ruppert und dem Familienvermögen der Retzmanns, und beides durfte er niemals bekommen. Zwar waren die Papiere sicher an ihrem Körper geborgen, doch Lore fragte sich bedrückt, was sie tun konnte, um das Kind vor seinem Zugriff zu bewahren.
    Da auch der alte Diener des Grafen in der Nacht von den Wellenverschlungen worden war, gab es an Bord des Wracks keinen Zeugen für die Feindschaft zwischen dem jungen Herrn von Retzmann und seinem Großvater. Eine Weile überlegte sie, ob sie Ruppert nicht doch vor allen Leuten als den Mörder seines Großvaters bezichtigen sollte. Auch wenn ihr Wort nichts gegen das seine galt, würden doch etliche hellhörig werden, wenn auch Nati in seiner Obhut ein Unfall zustieß. Doch das würde dem Kind nichts mehr nützen.
    Lore fühlte Rupperts Blicke in ihrem Nacken und fragte sich, was er vorhatte. Was war, wenn er gar nicht erst versuchte, seine Autorität als Verwandter auszuspielen, sondern gleich einen zweiten Mordanschlag plante? Sie traute ihm zu, das Kind zu töten und ihr die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Auf diese Weise konnte er die Erbin samt einer lästigen Zeugin mit einem Schlag loswerden. Einem Mann, der einen erschöpften Greis unbarmherzig getötet hatte, war auch jede andere Schlechtigkeit zuzutrauen.
    Da sie nichts gegen ihn unternehmen konnte, sah Lore keinen anderen Ausweg, als sich möglichst weit von ihm fernzuhalten. Sie wollte ihm ihre Angst nicht zeigen und setzte Nati daher scheinbar gelassen auf ihren Schoß und packte das Hartbrot aus, das in einer der immer noch trockenen Taschen des Segeltuchmantels steckte. Ein Matrose kam mit einer Wasserflasche und einem winzigen Becher in der Hand auf sie zu, um ihnen etwas zu trinken zu geben.
    Lore musste Nati beinahe mit Gewalt dazu zwingen, den Becher zu leeren. Als sie selbst die brackige Flüssigkeit hinabwürgte, deutete Nati durch das zerbrochene Fenster in den Salon und begann lauthals zu schreien.
    Unwillkürlich blickte auch Lore nach unten und sah direkt in das Gesicht von Schwester Henrica. Die Augen der toten Franziskanerin waren weit geöffnet, und für einen Augenblick war es Lore, als läge ein vorwurfsvoller Ausdruck in ihnen. Warum ließ Gottdich leben, du kleine Ungläubige, schienen sie zu fragen, und warum musste ich sterben?
    Lore schüttelte sich und wandte sich ab. Der Matrose blickte sie traurig an und strich dann dem schluchzenden Kind über das Haar. »Nicht hinsehen, kleines Fräulein! Und Sie auch nicht, Madame. Die frommen Frauen sind jetzt alle bei Gott. Sie haben so lange für uns gebetet, bis die große Welle gekommen ist, die den Salon mit einem Schlag unter Wasser gesetzt und das Deckhaus zerstört hat. Die da unten haben jetzt ihren Frieden. Und wir sind bald gerettet! Sehen Sie doch, da setzt die alte
Liverpool
ihr Beiboot aus. Hier, trinken Sie einen Schluck Rum zum Wärmen. Ich setze Sie mit Ihrem Schützling in das erste Boot. Dann sind Sie in Sicherheit.«
    Lore bemerkte jedoch seinen nachdenklichen Blick, mit dem er das vergleichsweise winzige Boot betrachtete, und sie vernahm auch die Zweifel, die hinter ihr zwei andere Matrosen äußerten.
    Die Flut stieg wieder, und lange bevor das kleine Beiboot des Raddampfers alle hundertsiebzig Überlebenden in Sicherheit bringen konnte, würde das Deck der
Deutschland
bis weit über die Reste des Ruderhauses unter Wasser stehen.
    Lore sah, wie Ruppert sich geschickt und ohne anzuecken unter die Passagiere mischte, die dem anlegenden Boot am nächsten standen, und so zu den zwölf Glücklichen zählte, die beinahe wie Mehlsäcke in den Kahn hineingepackt wurden. Eigentlich hatte der Kapitän zuerst die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen wollen, aber die Frauen, die die Schreckensnacht überlebt hatten, scheuten vor der Nussschale zurück, die trotz aller Leinen und helfenden Hände wie wild auf dem Wasser herumtanzte.
    Sobald der letzte Passagier den Boden des Bootes berührt hatte, stießen die Matrosen der
Liverpool
ihre Nussschale vom Rumpf der
Deutschland
weg und legten sich so kräftig in die Riemen, dass diese sich bogen. Dennoch reihten sich die Minuten quälend langsamzu einer Viertelstunde, bis sie an der Seite des Schleppers anlegen konnten.
    »Sechsunddreißig!«,

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