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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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diesen Wechselbalg lieber bei mir abladenff«, fragte er hämisch, aber so leise, dass nur sie und Nati es verstanden. »Oder hast du die Nase immer noch nicht voll von diesem kleinen Ungeheuer? Du darfst dich noch ein wenig um dieses Miststück kümmern. Ich werde es mir erst dann holen, wenn es mir passt! Und jetzt passt es mir noch nicht.«
    Nati spuckte ihn an und schrie dann wütend auf. »Du bist böse! Ich mag dich nicht! Lore mag mich, und sie lässt mich nie, niemals allein! Geh weg, du gemeiner Kerl, und lass meine Lore in Ruhe! Sonst wird Großvater dich mit dem Stock verprügeln!«
    Lore war es unangenehm, dass sich die anderen Passagiere zu ihnen umdrehten und die kleine Keiferin pikiert anstarrten. Ruppert aber lachte nur und stand auf. Mit einer Geste, die seine Großzügigkeit unterstreichen sollte, überließ er Lore den Platz neben dem heißen Schornstein.
    »Nathalia ist nun einmal ein ungezogenes, verwöhntes Balg!«, sagte er zu einem der anderen Geretteten. »Bei dem bleibt nur ein Kindermädchen, das selbst nicht ganz richtig im Kopf ist. Es ist wirklich ein Kreuz mit dem Kind und seiner schwachsinnigen Pflegerin! Aber leider kann man sich seine Verwandtschaft und ihren Anhang nicht aussuchen. Daher werde ich die beiden, sobald es mir möglich ist, in meine Obhut nehmen müssen.«
    Zu Lores Ärger stimmte der andere Mann Ruppert eifrig zu und musterte sie dabei mit einem mitleidigen Blick, ehe er sich abwandte und zur Reling hinüberwankte.
    Die
Liverpool
rollte und stampfte in den hohen Wellen. Daher konnten viele der Passagiere die Notmahlzeit von der
Deutschland
nicht bei sich behalten und mussten sich übergeben. Auch Lore lagen die Kekse und das Hartbrot wie ein Stein im Magen, aber Natis Elend lenkte sie ab. Die Kleine erbrach alles, was sie gegessen und getrunken hatte, und rollte sich zuletzt bleich und schwer atmend in Lores Schoß zusammen.
    Als das Schiff endlich seinen Heimathafen Harwich erreichte, fühl te Lore sich kaum besser als ihr Schützling. Verständnislos beobachtete sie, wie ein Schiffer beim Anblick der Stadt zahlreiche Flaggen in schnellem Wechsel aufziehen und wieder abnehmen ließ. Es musste sich dabei um eine Nachricht handeln, denn als die
Liverpool
im Hafen anlegte, war der Kai schwarz von Menschen, und es eilten immer mehr herbei. Etliche blieben nur neugierig stehen, viele aber kamen an Bord des Schleppers und nahmen sich der geschwächten Schiffbrüchigen an, die zum größten Teil nicht mehr in der Lage waren, auf den eigenen Füßen zu stehen.
    Lore war froh, als ein junger Mann Nati aufhob und ihr in einem für sie kaum verständlichen Englisch sagte, er würde ihre Tochter zur »Hall« bringen. Ein kräftiger, nach Rauch und feuchtem Staub riechender Hafenarbeiter hob sie selbst hoch und trug sie hinter Nati her auf ein amtlich aussehendes Gebäude zu, dessen Eingang mit zwei martialisch wirkenden Statuen geschmückt war. Die beiden Männer brachten sie und Nati in einen mit Wappen und alten Fahnen geschmückten Saal und setzten sie auf eine mit Leder überzogene Bank, deren Lehnen mit fingertiefen Schnitzereien verziert waren.
    Uniformierte Beamte und junge Schreiber liefen mit kleinen Täfelchen zwischen den Geretteten hin und her und fragten jeden nach seinen Personalien und seinem Heimatort. Dabei mussten sie den vielen Menschen ausweichen, die Kannen voller heißer Getränke, Kochkessel mit dampfender Suppe, Brot und alle möglichen Lebensmittel brachten, als hätten sie spontan ihren Abendbrottisch abgeräumt und alles, was darauf gestanden hatte, hierhergebracht. Andere schleppten Decken, trockene Kleidung und allerlei Hausmittel gegen Erkältung und Erschöpfung herbei. Drei Ärzte gingen umher und versorgten die Verletzten, und Lore sah mit einer gewissen Befriedigung, wie ein allzu aufdringlicher Zeitungsreporter von einer resoluten Krankenschwester vor die Tür gesetzt wurde.
    Nun, da die Gefahr vorbei war, spürte Lore zum ersten Mal ihre tiefe Erschöpfung. Ihr war zum Sterben elend, und sie fühlte sich außerstande, sich Natis so anzunehmen, wie es nötig war. Das Mädchen lag ganz still da, das Gesichtchen grauweiß wie das Laken, auf das man sie gebettet hatte.
    Ein kleines Mädchen, kaum älter als Nati, trippelte heran und drückte Lore eine Schale mit dampfender Suppe in die Hände. Es sagte etwas, aber seine Worte hatten keinerlei Ähnlichkeit mit dem Englisch, das Lore von ihrem Vater gelernt hatte.
    »Thank you very much!«,

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