Dezembersturm
verloren und waren den Wellen zum Opfer gefallen, darunter manch tapferer Mann, der bis zuletzt für die Rettung anderer gesorgt hatte.
Unwillkürlich sah Lore zu Natis Großvater hoch, der nicht weit über ihr wie ein nasser Sack in den Tauen hing. Sein Gesicht wirkte grau und verfallen, und er vermochte mit seinen steifen Fingern das Seil nicht zu lösen, mit dem er sich an den Wanten festgebunden hatte. Andere Passagiere drängten an ihm vorbei, um auf dem jetzt trockenen Deck Atem schöpfen zu können, bis die nächste Flut sie wieder nach oben treiben würde.
Graf Retzmann nestelte mit verbissenem Gesicht an den Knoten, die ihn festhielten, und achtete nicht auf seine Umgebung. Da sich die letzte Schlinge nicht lösen ließ, entschloss er sich, das verknotete Tau über den Kopf zu ziehen.
Gerade als es ihm gelungen war, auch die Arme aus der Schlinge zu ziehen, rutschte ein Passagier über ihm ab und trat ihm auf die Hand, mit der er sich in den Wanten festhielt. Mit einem Aufschrei verlor der alte Mann den Halt, schaffte es aber irgendwie noch, sich mit der anderen Hand an eines der senkrecht verlaufenden Taue zu klammern. Genau wie er kämpfte nun auch der andere Passagier um sein Gleichgewicht. Beide Männer stießen noch einmal zusammen. Diesmal vermochte Graf Retzmann sich nicht mehr festzuhalten und stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Ein grün schäumender Brecher packte ihn und drückte ihn unter Wasser.
Von der Höhe des Mastes aus sah Lore zu, wie Natis Großvater starb. Als der junge Mann, der das Unglück verursacht hatte, an ihr vorbeikletterte, erkannte ihn Lore. Es war Ruppert von Retzmann. Seine Miene schien vor Entsetzen verzerrt und sein Mund wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Doch aus seinen Augen leuchtete wilder Triumph. So hatte auch Ottokar von Trettinihren Großvater angeblickt, nachdem die Richter ihm die riesigen Güter zugesprochen hatten. Lore wurde mit einem Mal klar, dass der Tod des alten Grafen kein Unglücksfall gewesen war, sondern ein gemeiner, geschickt in Szene gesetzter Mord.
Von den durchfrorenen und zu Tode erschöpften Menschen auf der
Deutschland
schenkte keiner Graf Retzmanns Ende mehr Beachtung als ein bedauerndes Kopfschütteln. Jeder schien froh zu sein, dass es nicht ihn selbst getroffen hatte, und es schöpfte niemand den Verdacht, es sei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Kapitän Brickenstein half sogar dem wegen des Unglücks scheinbar völlig niedergeschmetterten Ruppert auf das Deck hinunter und versuchte, ihn zu beruhigen.
Die meisten Passagiere drängten sich im Windschatten des abgedeckten Ruderhauses und in den Resten des Deckpavillons zusammen und warteten darauf, den einen oder anderen Bissen von dem Brot und der Wurst abzubekommen, die ein Matrose mit in die Takelage genommen hatte. Alle anderen Vorräte hatte die gierige See verschlungen.
Lore hatte sich bisher nicht gerührt, teils wegen des Schreckens, den ihr der heimtückische Mord eingejagt hatte, teils aber auch, um Nati nicht zu wecken, die sich in den Schlaf geweint hatte und nun friedlich in ihrem Schoß schlummerte. Stumm dankte sie Gott, dass das Kind den Vorfall nicht miterlebt hatte, wusste aber nicht, wie sie dem Mädchen den Tod seines Großvaters erklären sollte. Am liebsten wäre sie sitzen geblieben, bis irgendetwas Entscheidendes geschah. Doch ihr Körper forderte nachdrücklich sein Recht. Ihre Blase schmerzte, und die Zunge klebte ihr wie Leder am Gaumen. Bei dem Gedanken an die Reste des Hartbrots, das sich noch in ihren Manteltaschen befand, knurrte ihr Magen vernehmlich. Sie schüttelte ihre Erstarrung ab, zog die Hände aus den Falten von Natis warmem Pelzmantel und streckte sie durch die Ärmel ihres Segeltuchmantels hinaus, um den Gürtelund das Tauende zu lösen, mit denen sie immer noch am Mast festgebunden war. Lange würde sie sich nicht an Deck aufhalten können, denn die Flut hatte schon wieder eingesetzt, und die Überlebenden würden bald aufs Neue Zuflucht in der Takelage suchen müssen.
Inzwischen hatte der Kapitän bemerkt, dass sie noch in luftiger Höhe saß, und schickte zwei Leute zu ihr hoch. Doch anstatt ihr zu helfen, blieben die beiden Seeleute neben ihr stehen und starrten angestrengt nach Westen. Lore beschattete ihre Augen mit den Händen und suchte den Horizont in der gleichen Richtung ab.
Vor dem dunklen Himmel zeichnete sich ein Streifen weißlichgrauen Rauches ab, unter dem ein rundlicher Schatten regelmäßig auftauchte und wieder
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