Dezembersturm
Natis Vetter schimpfte und drohte mit der Peitsche, doch die Rangen grinsten nur und versperrten den beiden Männern den Weg in das Haus.
Als Ruppert Lore auf dem Bock des Fuhrwerks entdeckte, verschwand die Wut auf seinem Gesicht und machte einer Mischungaus Schadenfreude und Erleichterung Platz. Er schob die Kinder beiseite und kam auf sie zu. Mit einem höhnischen Lachen packte er sie bei den Oberarmen, riss sie von dem Fuhrwerk herunter und stellte sie mit einem harten Ruck auf die Erde. Dann holte er aus und gab ihr eine schallende Ohrfeige.
»Du verrücktes, diebisches Frauenzimmer!«, fuhr er sie auf Englisch an. »Was fällt dir ein, mein Mündel einfach wegzuschleppen, ohne mich zu fragen? Ich möchte wissen, was mein Großvater sich dabei gedacht hat, so ein unzuverlässiges Weibsstück wie dich als Kindermädchen für Komtess Nathalia einzustellen!« Schon hob er die Hand, um Lore erneut zu schlagen.
Doch da schob Joe Penn das Kinn vor, legte die Hand auf Rupperts Schulter und drehte diesen mit Leichtigkeit zu sich herum. »He, mein Junge! Es gefällt mir nicht, wie du meinen Gast behandelst, auch wenn du ein Vornehmer bist!«
In dem Augenblick mischte sich das verstaubt wirkende Männchen ein und hielt Joe Penn ein amtliches Papier unter die Nase. »Halt! Jede körperliche Attacke auf meinen Mandanten wird zur Anzeige gebracht! Wir sind hier in offizieller Mission, um das Mündel meines Mandanten zurückzuholen, das diese Person dort entführt hat.« Dabei deutete er auf Lore.
»Das ist nicht wahr!«, schrie Lore. »Ich habe Nathalia nicht entführt. Ihr Großvater hat sie mir anvertraut. Ich kann …« Ein heftiger Stoß landete in ihren Rippen und nahm ihr die Luft. Sie zuckte zusammen und starrte Marys ältesten Bruder Jonny an, der die Finger auf die Lippen legte und heftig den Kopf schüttelte. Obwohl Lore nicht verstand, was er meinte, stotterte sie nur noch einen leisen Protest und verstummte, als sich alles dem Advokaten zuwandte. Dieser verlas eine gerichtliche Verfügung, deren Inhalt Lore nicht ganz verstand. Aber das Wichtigste begriff sie: Ruppert hatte sich bei den Behörden als Nathalias Vormund ausgegeben und sich eine amtliche Bescheinigung ausstellen lassen, die ihmdie Verfügungsgewalt über das Kind gab. Irgendetwas schien dennoch faul an der Sache zu sein, denn Jonny machte eine verächtliche Handbewegung in Richtung des Advokaten und zeigte nach oben auf das Dachfenster, hinter dem sich Marys Kopf abzeichnete. Diese winkte kurz herab und sah ganz so aus, als wolle sie etwas Wichtiges mitteilen.
Lore tat so, als füge sie sich nun widerspruchslos den Anweisungen des Advokaten, der ihr befahl, ins Haus zu gehen, das Kind anzuziehen und in eine Decke zu wickeln, damit Count Retzmann – wie er Ruppert nannte – es mitnehmen könne.
»Du kannst ebenfalls deine Sachen packen, denn dein Herr will Gnade vor Recht ergehen lassen und dich weiterhin als Kindermädchen für die Kleine behalten, auch wenn das schreckliche Unglück deinen Geist verwirrt zu haben scheint«, setzte er zuletzt überheblich hinzu.
Lore stieg wie betäubt die Treppe hinauf. So musste sich eine Maus in der Falle fühlen, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hatte Graf Retzmann versprochen, seine Enkelin vor Ruppert zu schützen, und dabei kläglich versagt. Statt hier bei diesen netten Leuten zu bleiben, hätte sie Nati Marys Pflege übergeben und mit der Eisenbahn nach London fahren müssen, um die Geschäftsstelle des NDL persönlich aufzusuchen. Mit einem Vertreter der Reederei an ihrer Seite und den entsprechenden Papieren in der Hand hätte Nathalias mörderischer Vetter nun das Nachsehen. Aber der Gedanke war ihr erst vorhin in der Kirche gekommen und damit, wie sich nun herausstellte, viel zu spät.
Als sie das zu Mary sagte, schüttelte diese den Kopf. »Unsinn! Du wärst wahrscheinlich nicht weit gekommen. Dieser Dreckskerl Ruppert hat dich gewiss die ganze Zeit beobachten lassen. Ich glaube, der kennt sich hier in England ebenso gut aus wie in seiner eigenen Westentasche. Der Advokat, den er da mitschleppt, hat seine Schmutzfinger in einem Haufen krummer Sachen stecken,sage ich dir! Den Bruder einer Dame, für die ich nähe, hat er um sein Cottage in Kent gebracht, nur weil der arme Kerl sich keinen guten Anwalt leisten konnte. Da dieser gemeine Rechtsverdreher alle Tricks kennt, konnte ihm bisher niemand etwas nachweisen. Zeig ihm bloß nicht die Briefe, die der alte Count dir gegeben hat. Der Kerl
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