Dezembersturm
war sie noch nicht volljährig und hielt sich zudem ohne Angehörige und ohne Vormund in einem fremden Land auf. Es war nicht abwegig, dass die englischen Behörden sie kurzerhand in ein Kloster steckten, da sie glaubten, sie wäre schon in Deutschland für ein Leben als Nonne bestimmt gewesen. Lore fragte sich, wer dieses Gerücht verbreitet hatte und ob eine Absicht dahinterstand. Sicher hatten andere Passagiere ihren Gastgebern erzählt, dass sie mit den Nonnen hatte reisen sollen, und das war möglicherweise von den frommen Katholiken hier missverstanden worden. Genauso gut aber konnte Ruppert hinter dem dummen Gerede stecken. Ihm käme es sicher zupass, wenn sie hinter Klostermauern verschwände, während die hiesigen Behörden ihm Nathalia anstandslos ausliefern würden.
Vom Rest der Fahrt nahm Lore vor lauter Anspannung kaum etwas wahr. Ihre Gedanken schwirrten wie gefangene Vögel, und ihr war, als treibe sie unaufhaltsam auf einen Abgrund zu. Schon als sie die Kirche betrat, erwartete sie, jeden Augenblick einen Mann in Uniform oder in einer Soutane auftauchen zu sehen, der sie in ein Kloster schleppen wollte.
Ihre Begleiterin schien ihre Unruhe und ihre Geistesabwesenheit für einen Ausdruck tiefer Trauer zu halten, denn sie fasste nachihrer Hand und streichelte sie immer wieder tröstend. Nach dem schier nicht enden wollenden Gottesdienst führte sie Lore wie ein kleines Kind ins Freie und trat, ohne sie loszulassen, auf den Priester und den Vikar zu. Auf Lore wirkten die beiden Männer wie schwarze Raubvögel, die sich gleich auf sie stürzen würden. Doch die beiden älteren, etwas rotgesichtigen Herren erwiesen sich als freundlich und kondolierten ihr, als sei sie eine nahe Verwandte der verstorbenen Franziskanerinnen. Auch bedauerten sie sie wegen des Verlusts ihrer Beschützerinnen und lobten ihre Tapferkeit und ihre Bereitschaft, sich eines Waisenkinds anzunehmen und es während des schrecklichen Unglücks zu beschützen.
Der Vikar lächelte Lore und der dicken Dame verständnisvoll zu. »Mrs. Shelton hat uns von der schwierigen Lage berichtet, in der du dich jetzt, da deine Beschützerinnen tot sind, befindest. Sei versichert, wir werden alles tun, um dir zu helfen, falls die Verwandten des Kindes nicht für dich sorgen wollen.«
»Herzlichen Dank! Das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete Lore und war froh, als die beiden Geistlichen sich verabschiedeten und gingen. Dafür sprach ihre Begleiterin sie an. »Ich habe eine kleine Feier zu Ehren der frommen Damen vorbereitet. Du bist herzlich eingeladen, mitzukommen, mein liebes Kind.«
»Ich würde gerne … Aber ich kann meinen Schützling nicht so lange allein lassen. Das Kind ist sehr krank, müssen Sie wissen«, antwortete Lore, die dieser Einladung unbedingt entkommen wollte.
»Das verstehe ich sehr gut. Aber wenn die kleine Komtess wieder gesund ist, kommst du zu mir und bringst sie mit, nicht wahr?« Die Dame nickte Lore lächelnd zu und schien zufrieden, ein so pflichtbewusstes Mädchen vor sich zu haben. Dann stellte sie Lore anderen Damen aus den örtlichen Honoratiorenfamilien vor. Auch diese luden Lore zu ihren offiziellen Besuchsnachmittagen ein, machten dabei aber keinen Hehl daraus, dass sie von ihr einenauthentischen Bericht über die ertrunkenen Nonnen und über das ganze, schlimme Unglück hören wollten – mit allen grausamen Einzelheiten.
Die Einladungen galten auch für Mrs. Penn. Diese strahlte über das ganze Gesicht und umschmeichelte die Damen auf eine Weise, die Lore peinlich anmutete. Das junge Mädchen hatte zu Hause genug von solchen gesellschaftlichen Ereignissen gehört und war nicht erbaut darüber, erbarmungslos gemustert und ausgefragt zu werden, um ihren Gastgebern und deren Vertrauten Gesprächsstoff für viele Tage zu liefern. Allerdings blieb ihr nichts anderes übrig, als die Einladungen anzunehmen und sich dafür höflich bei den Damen zu bedanken. Im Stillen hoffte sie, dass Thomas Simmern oder ein anderer Repräsentant der NDL-Reederei vorher auftauchen würde, um Nathalia und sie in seine Obhut zu nehmen.
IV.
Als das Mietfuhrwerk mit der Familie Penn und ihrem Gast in die Straße am alten Hafen einbog, geriet es in einen Menschenauflauf. Die Straßenkinder des ganzen Viertels hatten sich vor dem schmalbrüstigen Heim der Penns versammelt und drängten sich schreiend und gestikulierend um Ruppert von Retzmann und einen dürren, kleinen Mann in vornehmen, aber abgeschabt wirkenden Kleidern.
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