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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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werden sollte.
    »Du wirst sicher mitkommen wollen, mein Kind«, sagte sie zuletzt und dehnte ihre Einladung auch auf Mrs. Penn aus.
    Während diese freudig zustimmte, brachte Lore Einwendungen, da sie Nati nicht allein lassen wollte. Doch gegen die Überredungskunst der beiden Frauen kam sie nicht an. Auch spürte sie, dass eine Weigerung sie in ein schlechtes Licht setzen und sogar das Ansehen der Penns bei ihren Nachbarn beeinträchtigen würde. Mary, die in dem matschigen Schnee nicht auf ihren Krücken gehen konnte, und ihre beiden ältesten Brüder versprachen, auf Nati aufzupassen und sie zu beschützen. Die Jungen durften sich wegen einiger ungehöriger Streiche bis Weihnachten ohnehin nicht in der Kirche sehen lassen und schienen recht froh zu sein, dass sie zu den Hütern der »kleinen Prinzessin« bestimmt worden waren.
    Als Lore aufbrechen wollte, drängte Mary ihr noch ihren Wintermantel auf. »Mit dem dünnen Ding da«, sagte sie und wies auf den Wollmantel, den Lore unter dem Segeltuchmantel getragen hatte, »bist du erfroren, ehe du die Kirche erreichst!«
    Lore widersprach nicht, obwohl sie anderer Meinung war. Hier in England war es um die Jahreszeit viel wärmer als in Ostpreußen, allerdings auch wesentlich feuchter. Aber der dunkle Mantel passte natürlich besser zu dem traurigen Anlass als ihr hellbrauner. Deshalb bedankte sie sich bei Mary und streifte mit einem Blick die Sitzbank unter dem Fenster, in der der hässliche Segeltuchmantel samt seinem kostbaren Inhalt beinahe wie in einem Geheimfach versteckt lag. Mary sah den Blick und nickte verschwörerisch. Von ihr, das hatte sie Lore fest versprochen, würde niemand etwas von den Papieren darin erfahren.
    Für einen Moment wünschte Lore sich, sie könnte Nati ebenso gut verstecken. In den beiden letzten Tagen hatte sie trotz des Einbruchsin den Keller vor lauter Sorge um den Gesundheitszustand des Kindes und wegen des Ansturms der Besucherinnen nur selten an Ruppert gedacht. Jetzt aber wurde sie beinahe schmerzhaft an ihn erinnert, und ihr wurde bewusst, dass das Haus jetzt für zwei, drei Stunden einladend leer stehen würde. Mit ihren zwölf und vierzehn Jahren waren die beiden Jungen keine Gegner für einen Mann, der aus Habsucht sein Leben riskiert hatte, um vor aller Augen einen als Unglücksfall kaschierten Mord zu begehen. Sie zögerte und wollte schon sagen, sie fahre doch nicht mit, aber da hob der Kutscher der Dame sie hoch, setzte sie neben seine Herrin in den offenen Landauer und packte sie mit geübten Händen in eine Schaffelldecke ein. Danach schwang er sich auf den Bock, löste die Bremse und schnalzte leise. Sofort zogen die beiden Rotschimmel vor dem Wagen an.
    Während der Fahrt durch das Hafenviertel sah Lore sich nervös um. Aber da war kein Ruppert zu sehen und niemand, der ihnen über Gebühr nachstarrte. Doch das trug nicht zu ihrer Beruhigung bei. In ihrer Phantasie sah sie Ruppert aus einer Ecke hervorspringen, mit einer Pistole auf sie zielen und Natis Herausgabe verlangen.
    Die Dame bemerkte Lores Unruhe und fasste ihre Hand. »Ich weiß, Kindchen, es ist nicht leicht, vor den Särgen derjenigen zu stehen, die man geliebt und verehrt hat. Sei tapfer, mein kleines deutsches Fräulein. Deine Begleiterinnen und Beschützerinnen sind jetzt bei der Heiligen Jungfrau und ihrem Sohn Jesus Christus in guter Hut. Ganz bestimmt sehen sie schon von oben auf dich herab und werden dich als deine Schutzengel begleiten, wo immer du auch hingehst. Denk nur, wie sie sich über deine Gebete freuen werden! Sicher wirst du später, wenn dein Schützling deiner Pflege entwachsen ist, den verehrten Schwestern nachstreben und selbst in den Orden eintreten wollen. Sollte es dir an der nötigen Mitgift dafür fehlen, so werde ich eine Lösung für dichfinden, das verspreche ich dir. Ich denke da an einen Wohltätigkeitsball, bei dem wir so viel Geld für dich sammeln können, dass es für den Eintritt in den englischen Zweig des Ordens reicht. Du wirst dich hier in unserem schönen, alten England als fromme Frau sicher glücklicher fühlen als drüben in den Staaten.«
    Lore starrte ihr Gegenüber verständnislos an. Doch als die Dame in der gleichen salbungsvollen Art weitersprach, begriff sie, was diese meinte. Irgendwie schien auch die Frau der festen Überzeugung zu sein, dass sie Nonne werden wollte und nur durch die Verantwortung für das arme Waisenkind daran gehindert wurde. Damit zog eine weitere Gefahr für sie herauf. Immerhin

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