Dezembersturm
noch lange nicht gesund und kann jederzeit einen Rückfall bekommen. Dann hätte der Widerling da unten wirklich Grund, sich die Hände zu reiben.«
Lore wagte ein kleines Lächeln. Wenn Nati krank spielte, dann waren ihre Lebensgeister wieder am Erwachen. Schon aus diesem Grund würde sie mitspielen, bis Marys Plan aufging und Hilfe kam. Um selbst nicht ohne Geld zu sein, steckte sie sich einen einzelnen Geldschein aus dem Portemonnaie des Grafen in die Tasche von Marys Wintermantel, den sie jetzt anbehalten musste, und gab Mary den Rest zum Aufbewahren.
»Nimm dir ruhig noch ein oder zwei Scheine heraus, wenn du etwas brauchst«, sagte sie. »Wenn ich nicht zurückkomme, gehört das Geld dir. Es soll Ruppert nicht auch noch in die Hände fallen.«
Mary nickte. »Ihm darf einiges nicht in die Hände fallen. Aber keine Sorge. Von den Papieren weiß niemand außer mir, und diehändige ich nur dir wieder aus. Auch der Mann von der Reederei bekommt nur den Brief zu sehen, den du mir gezeigt hast. Es könnte ja eine Kreatur dieses Schweinekerls da unten sein! Aber jetzt müsst ihr gehen, sonst bringt dieser Schurke meinen Vater auf offener Straße um. Ich wünsche dir und Lady Püppchen alles Glück der Welt!«
V.
Nach allem Glück der Welt sah Lores und Nathalias Situation allerdings nicht aus. Ruppert schenkte dem dick eingepackten Kind nur einen angewiderten Blick und wich erschrocken zurück, als Lore ihm mitteilte, seine Base habe wahrscheinlich eine ansteckende Influenza, an der schon ein paar Menschen im Hafenviertel gestorben seien. Daher trieb er sie samt Nati mit dem Knauf der Peitsche in die wartende Kutsche und setzte sich trotz der Winterkälte oben auf den Bock. Zu Lores Bedauern stieg dafür der Mann, der neben dem Kutscher gewartet hatte, in den Kasten. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, zog dann blitzschnell einen Strick hervor und band ihr die Füße zusammen. Das längere Ende des Stricks befestigte er an einer Schlaufe im Wageninneren.
»Der Chief sagt, du bist eine ganz heimtückische Ausreißerin. Aber noch einmal wirst du ihm nicht davonrennen!«
Lore verstand seinen Dialekt kaum, begriff aber, was er meinte, und bekam Angst, als sie das gierige Glitzern in seinen Augen bemerkte. Der Mann leckte sich die Lippen, spielte bedeutungsvoll mit seinem Schiffermesser und grinste sie auf eine Art an, die ihr Unbehagen bereitete. Sie senkte den Kopf über Natis Gesicht, um ihre hilflose Wut und ihre Furcht zu verbergen. Einem solchenKerl hätte sie in ihrer Heimat noch nicht einmal am hellen Tag, geschweige denn bei Nacht begegnen wollen, und jetzt befand sie sich in seiner Gewalt.
Für einen Augenblick quoll die Angst vor dem in ihr hoch, was dieser Mann und seine Kumpane alles mit ihr anstellen mochten, und sie schüttelte sich. Elsie, ihr diebisches Hausmädchen, hatte sie in sehr unzarter Weise darüber aufgeklärt, was Männer mit Frauen machten, wenn sie verheiratet waren, und sie hatte ihr auch in allen Einzelheiten erzählt, was einer Bauernmagd passiert war, die von zwei Holzknechten, denen sie Essen hatte bringen sollen, in ein Gebüsch gezerrt und brutal missbraucht worden war.
Ihr Bewacher sah ebenfalls so aus, als würde er keinerlei Hemmungen kennen. Und tatsächlich, noch während die Kutsche anfuhr, streckte er die Hand aus und ließ sie über ihren Busen wandern.
Lore beugte sich noch tiefer über Nathalia, doch da begann der Kerl, ihren Mantel und ihren Rock langsam nach oben zu ziehen. »Wenn du nicht aufhörst, schreie ich so, dass die Leute zusammenlaufen«, presste sie hervor.
Der Mann lachte kurz, zog aber die Hand zurück und lehnte sich gemütlich gegen die Polster. Seine Haltung ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
Lore begriff, dass sie sich nicht allein auf Marys Plan verlassen durfte, sondern selbst jede Gelegenheit zur Flucht nutzen musste. Ruppert hatte sie eine Ausreißerin genannt, und sie nahm sich vor, genau das zu werden, sobald sich ihr ein Schlupfloch bot. Allerdings würde sie nicht ohne Nati fliehen, denn ihre kleine Lady durfte unter keinen Umständen in den Händen dieser Verbrecher zurückbleiben.
Lautes Geschrei riss sie aus ihren Überlegungen. Gleichzeitig zügelte der Kutscher schimpfend die Pferde. Lores Bewacher warf ihr eine Decke über die Knie, damit niemand, der zufällig aus einemder nahen Fenster schaute, den Strick um ihre Knöchel entdecken konnte, und funkelte sie drohend an. Lore aber
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