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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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beachtete ihn nicht, sondern reckte den Hals, um durch den zerrissenen Ledervorhang vor dem Kutschenfenster zu spähen. Vielleicht tat die Muttergottes ein Wunder und schickte ihr im letzten Moment jemanden zu Hilfe.
    Vor Rupperts Gefährt stritten sich zwei erregte Kutscher um die Vorfahrt. Der offene, mit zwei dürren, alten Gäulen bespannte Wagen des Advokaten war mitten auf der Straße gefahren, um den stinkenden Morast der Rinnsteine zu meiden. Jetzt sah er sich einer schweren, mit vier kräftigen Füchsen bespannten und über und über mit Dreck bespritzten Reisekutsche gegenüber, die in so schnellem Tempo um die Ecke gebogen war, dass sie beinahe eines der Pferde des Advokaten mit der Deichsel aufgespießt hätte. Zum Glück hatten beide Kutscher schnell reagiert und ihre Tiere zum Stehen gebracht.
    Nun aber brüllten sie einander Worte zu, die Lore völlig unverständlich waren, und schwangen drohend die Peitschen.
    Der Advokat hüpfte auf seiner Sitzbank auf und ab und schimpfte wie ein Rohrspatz. Der Besitzer der Reisekutsche jedoch schien sich durch die Drohungen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Auf seinen Befehl sprangen sein Kutscher und der Lakai, der ebenfalls auf dem Bock gesessen hatte, auf die Straße herab, packten das Gefährt des Advokaten und schoben es kurzerhand zur Seite.
    Lore hörte Ruppert tief Luft holen und ein paar so unanständige französische Schimpfworte ausstoßen, dass sie rot wurde. Sie kannte die Worte von Hugenottenkindern, deren Väter auf den Gütern rings um Trettin als Gutsbeamte arbeiteten und die in der Trettiner Schule unterrichtet wurden. Diese waren traditionell zweisprachig aufgewachsen und hatten mit solchen Ausdrücken geprahlt.
    Als Ruppert sich beruhigt hatte, befahl er seinem Kutscher, den beiden Männern zu helfen, und nahm selbst die Zügel in die Hand. Zu dritt bugsierten sie das klapperige Vehikel bis an die Hausmauer, so dass die große Kutsche passieren konnte. Der in seiner Würde verletzte Advokat ließ seinen Kutscher daraufhin die armen Gäule traktieren, und sein Gefährt entfernte sich schnell vom Schauplatz seiner Niederlage.
    Auch Ruppert gab nun den Pferden die Köpfe frei und ließ die Zügel auf ihre Rücken klatschen, so dass sein Kutscher auf das anrollende Gefährt aufspringen musste. Der Wagen fuhr haarscharf an der Reisekutsche vorbei, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte Lore einen Blick in das Innere werfen. Dort saß ein Herr mittleren Alters, der Ruppert mit zusammengezogenen Augenbrauen nachstarrte. Dann verschwand die Kutsche aus ihrem Blickfeld, und Lore wandte sich wieder der leise vor sich hin wimmernden Nati und ihren eigenen Sorgen und Ängsten zu. Einen Augenblick lang ärgerte sie sich, weil sie nicht laut um Hilfe gerufen hatte, aber dann sagte sie sich, dass sie keinen Grund hatte, anzunehmen, der fremde Reisende wäre ihr zu Hilfe gekommen.
    Ruppert trieb die Pferde so rücksichtslos an, dass die Kutsche über das holprige Pflaster schwankte und in den Kurven in Gefahr geriet umzukippen. Lore spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. Bei diesem irrsinnigen Tempo würden Freddy und seine Freunde ihnen nicht folgen können. Damit fiel Marys schöner Plan ins Wasser, und sie sah sich und Nati dem mörderischen Erbschleicher und dessen skrupellosen Helfershelfern hoffnungslos ausgeliefert. Wenn ihr nicht unverzüglich etwas zu ihrer Rettung einfiel, waren sie beide bald mausetot.
    Nati schlief trotz der wild schlingernden Kutsche in ihren Armen ein oder tat zumindest so, denn sie zuckte bei jedem Schlagloch zusammen. Lore streichelte das Gesicht des Kindes und starrtedurch den flatternden Ledervorhang. Dabei versuchte sie, sich den Weg einzuprägen, musste sich aber bald eingestehen, dass sie viel zu wenig von der Umgebung erkennen konnte. Die Fronten der Häuser glichen einander wie ein Ei dem anderen, und schon bald hatte sie vollkommen die Orientierung verloren.
    Zu ihrem Erstaunen hielt die Kutsche mitten in Harwich auf einem belebten Platz an. Ruppert übergab dem Kutscher die Zügel, stieg mit steifen Bewegungen vom Kutschbock, so als müsse er sich die Beine vertreten, und ging um den Wagen herum. Dabei winkte er einen Mann in abgerissener Kleidung herbei, der mit anderen, nicht minder fragwürdigen Gestalten an der Wand eines halbzerfallenen Gebäudes lehnte, und fragte ihn nach dem Weg. Der zerlumpte Eckensteher spuckte aus, sah Ruppert frech von unten bis oben an und bequemte sich dann, langsam näher zu

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